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Wer braucht schon Utopien?
Klappentext
Utopien können Ziele und Wege emanzipatorischer Visionen aufzeigen, das Soziale neu entwerfen und kritische (politische) Bildung inspirieren. Sie sind aber nicht unschuldig, sondern in Macht- und Herrschaftsverhältnisse verstrickt.
Die titelgebende Frage „Wer braucht schon Utopien?“ drängt sich also auf.
Dieses schulheft versammelt vielstimmige Antworten in Form von theoretischen und historischen Analysen, empirischen Studien sowie essayistischen und künstlerischen Auseinandersetzungen.
Inhalt
Editorial
Wer braucht schon Utopien?
Sarah Göhmann
Utopiebildung weiterdenken
Potenziale und Fallstricke für die politische Bildung
Antje Winkler
Nirgends: In Bewegung bleiben oder
„… wie man mit beiden Beinen auf der Erde träumt“
Stefan Palaver
Projektionen von Schulen in (un-)möglichen Zukünften
Petra Kolb
Stadtproteste. Eine politische Utopie?
Stefan Vater
Eine andere Welt
Über die Un-Möglichkeit von Utopien und deren Notwendigkeit im Neoliberalismus
Malte Ebner von Eschenbach
Volksbildungsheterotopie Lesesaal
Betrachtungen zu den Bücherhallen als progressiver Ort medialer Wissensvermittlung und politischer Kontrolle in der Volksbildung um 1900
Sophia Schorr
Cruising Pedagogy
Zur Neufassung des Strukturzusammenhangs von Pädagogik und Utopie
Lena Marie Staab
„Enby Babes Blog. Alles außer Binarität!“
Nicht-binärgeschlechtliche Räume als Utopie(entwürfe) und ihre Bedeutung für Subjektivierungen
Iris Mendel
Erschöpft
Eine Pädagogik der Sorge und Hoffnung
Lukas Hofmann
Wer darf schon Utopien?
Herrschaftskritische Annäherungen
Maida Schuller
Neue Beziehungsweisen knüpfen
Abolitionistische Utopie und ihre Bedeutung für eine transformative Politische Bildung
Thomas Fritz
Utopien sind anderswo, nicht nirgendwo
Lukas Barth & Selina Obinger
Utopie? Nie!
Bildende Potenziale von Utopien in der Apokalypse?
Autor:innen dieser Ausgabe
Editorial
Wer braucht schon Utopien?
Wer alternative Zukünfte will, kommt um die Auseinandersetzung mit multiplen Krisen der Gegenwart nicht herum, seien es Pandemien, die Klimakrise, das Verhältnis von Menschen zu ihrer Umwelt im sogenannten ‚Anthropozän‘, Kriege überall auf der Welt, die steigende Zahl an zur Flucht gezwungenen Menschen, die durch das kapitalistische Wirtschaftssystem hervorgerufenen Verwerfungen, das Wiedererstarken von antifeministischen und antidemokratischen Bewegungen etc. Wohin aber kann und soll die Reise im Angesicht dieser geradezu dystopischen Entwicklungen gehen, wenn klar ist, dass individualistische und nationalistische Lösungen deutlich zu kurz greifen? In Utopien können tiefgreifende sozial-ökologische Transformationen ihren Ausdruck finden und dabei Alternativen zum Gegenwärtigen aufzeigen.
Utopien – so, wie wir sie verstehen – können verschiedene Ziele und Wege kritisch-emanzipatorischer Ideen und Visionen aufzeigen, die gesellschaftlich erzeugtes Leid ablehnen und/oder neue Versionen eines Zusammenlebens entwerfen (vgl. u. a. Negt 2012, Haraway 2016). Sie fungieren als Medium der Phantasie für unwahrscheinliche, aber wünschenswerte Entwicklungsrichtungen (vgl. u. a. Bloch 1959). Das spekulative und imaginative Moment utopischen Denkens könnte Bestandteil einer kritischen Pädagogik sein, die darum bemüht ist, an situierten, relationalen Geschichten der Verantwortung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu arbeiten, und damit Alternativen zu den gegenwärtigen Verhältnissen denk- und lebbar zu machen (vgl. u. a. Tsing et al. 2017, Bremer/Kuhnhenne 2017, Vanackere/Reimann 2018, Castro Varela/Klug 2020, Friedrichs 2022).
Und doch sind Utopien keine unschuldigen Zukunftsvisionen, die jenseits der kritisierten Gegenwart stehen. Für dieses schulheft haben wir daher die Fragen aufgeworfen, wann, für wen und für welche Zwecke Utopien gebraucht werden, welche Interessen, Anliegen und Macht- und Herrschaftsverhältnisse damit verbunden sind und in welche Möglichkeitsregime sie eingebettet sind. Wir fragen außerdem, welche Verständnisse von Utopie sich ausmachen lassen, welche Bezüge zu kritisch-emanzipatorischer (politischer) Bildung sich daraus ergeben und welche konkreten Wirkungen und Funktionen Utopien im Bildungsbereich haben können. Und schließlich: Was können Überlegungen zur Utopie für eine macht- und herrschaftskritische Bildungspraxis, -theorie und -forschung bedeuten?
Die Beiträge für dieses Heft wurden von Wissenschaftler:innen in unterschiedlichen Berufsphasen sowie von Bildungspraktiker:innen verfasst. Sie spiegeln die Breite der Themen und Zugänge in der Beschäftigung mit der Schnittstelle Utopie und Bildung wider. Das Spektrum reicht von theoretischen und historischen Analysen über empirische Studien bis hin zu essayistischen Zugängen und künstlerischen Auseinandersetzungen. Im Versuch, dieser Vielstimmigkeit gerecht zu werden, haben wir die Beiträge so gereiht, dass sich, unserem Empfinden nach, von Beitrag zu Beitrag und an den Übergängen eine Erzählung entfaltet – sei dies durch das Verweben thematischer Ähnlichkeiten und inhaltlicher Anknüpfungspunkte zwischen den Beiträgen, oder aber gerade durch das Setzen von Kontrapunkten, durch Abgrenzungen und Perspektivenverschiebungen. Unsere Zusammenstellung soll einladen, sich auch auf neue Gedankenstränge einzulassen, dem eigenen Sound der Beiträge zu folgen und den Rhythmus der Abfolge zu spüren.
Den Anfang macht der Text Utopiebildung weiterdenken – Potenziale und Fallstricke für die politische Bildung von Sarah Göhmann. Auf einer fundierten Begriffsbestimmung aufbauend diskutiert Göhmann anhand einer Konkretisierung von Utopiefähigkeit, wie eine praktische politische Bildungsarbeit vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftspolitischer Herausforderungen aussehen kann. Didaktische Aspekte bilden die Verbindung zum essayistisch angelegten Text von Antje Winkler mit dem Titel Nirgends: In Bewegung bleiben oder „… wie man mit beiden Beinen auf der Erde träumt“. Autoethnographisch einsetzend verwebt Winkler vielfältige sozialwissenschaftliche, philosophische und literarische Bezüge mit kunstpädagogischen und weiteren bildungswissenschaftlichen Überlegungen zum Entstehen utopischen Denkens. Stefan Palaver verhandelt in seinem Beitrag Projektionen von Schulen in (un-)möglichen Zukünften die pädagogische Praxis mit künstlerischen Erkenntnismitteln. In drei Comics widmet er sich aus bildungsphilosophischer Perspektive (un-)möglichen Utopien von Schule, wobei er soziale Selektion und Distinktion sowie die gesellschaftlich vermittelte Wahrnehmung von Geschichte thematisiert. Von diesen in einer ferneren Zukunft platzierten Überlegungen kehren wir mit dem Beitrag von Petra Kolb zu konkreten Utopien zurück, die bereits jetzt in Ansätzen gelebt werden. In ihrem Beitrag Stadtproteste. Eine politische Utopie? beschreibt Kolb anhand der Hamburger Recht-auf-Stadt-Bewegung, inwiefern Protestbewegungen mittels präfigurativer Praxen alternative utopische Lebensformen zu verwirklichen suchen. Zeitlich wieder anders gelagert taucht Stefan Vater in seinem Text Eine andere Welt. Über die Un-Möglichkeit von Utopien und deren Notwendigkeit im Neoliberalismus in historisch-literarische Utopieentwürfe ein. Anhand dieser Entwürfe beleuchtet er die Verwerfungen des Neoliberalismus und des Patriarchats, um sich mithilfe der feministischen Science Fiction der Problematik des Denkens von Undenkbarem fragend anzunähern. Mit seinem Beitrag zur Volksbildungsheterotopie Lesesaal wirft Malte Ebner von Eschenbach ebenfalls einen Blick in die Vergangenheit. Anhand detailreicher Beschreibungen rekonstruiert er aus historischer Perspektive das bürgerlich-liberale Vorhaben, Volksbildung zu regulieren, als konkrete Heterotopie, da sie eine Erhöhung kultureller Teilhabechancen für alle Bevölkerungsgruppen mit sich brachte.
Zur Mitte des Heftes lädt Sophia Schorr die Leser:innen dazu ein, Bildung und Utopie in theoretischen Suchbewegungen zusammenzudenken. Ausgehend von José Estaban Muñoz’ Konzept „Cruising Utopia“ – dem Entwurf einer queeren Utopie – plädiert Schorr für eine Cruising Pedagogy – Zur Neufassung des Strukturzusammenhangs von Pädagogik und Utopie. Auch im nächsten Beitrag werden Geschlechterfragen explizit aufgeworfen, diesmal anhand eines konkreten empirischen Beispiels. Lena Marie Staab analysiert in ihrem Beitrag „Enby Babes Blog. Alles außer Binarität!“ – Nicht-binärgeschlechtliche Räume als Utopie(entwürfe) und ihre Bedeutung für Subjektivierungen einen digitalen Raum als konkrete nicht-binäre Utopie. Über Utopien zu lesen ist zwar meist erquicklich, bei gleichzeitiger Verantwortung für Care- bzw. Sorgearbeit kann aber selbst diese Tätigkeit erschöpfen – ganz besonders, wenn Care-Arbeit nur individuell verhandelt wird und strukturelle Ungleichheiten ausgeblendet bleiben. In ihrem autoethnographischen Essay Erschöpft. Eine Pädagogik der Sorge und Hoffnung reflektiert Iris Mendel die Verwobenheiten sozialer Erschöpfung mit Bildung als Ort der Hoffnung, um dann in einem Ausblick auf eine feministische Bildungsrevolution zu münden. Auch Lukas Hofmann analysiert Ungleichheitsbedingungen. In seinem Beitrag Wer darf schon Utopien? Herrschaftskritische Annäherungen diskutiert er zentrale Positionen Pierre Bourdieus mit Blick darauf, dass gerade alltäglichen Artikulationen des Politischen utopisches Potential innewohnen. Maida Schuller stellt ebenso die Frage nach den Sprecher:innenpositionen und wendet sich dabei Schwarzen Widerstandsbewegungen zu. Ihr Text Neue Beziehungsweisen knüpfen – Abolitionistische Utopie und ihre Bedeutung für eine transformative Politische Bildung beleuchtet abolitionistische Praktiken als gegenwärtige Utopie und abolitionistische Impulse als Möglichkeit, im Rahmen politischer Bildung gegenhegemoniale Positionen zu stärken. Während dabei utopische Praxen im aktuellen deutschsprachigen Raum verortet werden, konstatiert hingegen Thomas Fritz: Utopien sind anderswo, nicht nirgendwo. In seinem Beitrag kritisiert er die hegemonialen und monolingualen Wissensproduktionen westlicher Gesellschaften aus sprachwissenschaftlicher Perspektive, indem er real existierende (mehr-)sprachliche Realitäten und Praxen des globalen Südens thematisiert. Den Abschluss bildet der Beitrag von Lukas Barth und Selina Obinger, in dem der ambivalente Charakter von Utopien zum Vorschein kommt. In ihrem Text Utopie? Nie! Bildende Potenziale von Utopien in der Apokalypse? beschreiben Barth und Obinger die aktuellen Verhältnisse als apokalyptisch und diskutieren auf dieser Grundlage den Doppelcharakter von Utopien in der (politischen) Bildung: als Notwendigkeit und gleichzeitig als Gefahr im Sinne einer potenziellen Stabilisierung der imperialen Lebensweise.
Die Reisen durch Vergangenheiten und Zukünfte, durch persönliche Reflexionen und theoretische Erkundungen, durch ferne Visionen und bereits vorhandene konkrete utopische Versuche führen uns zu vielfältigen herrschaftskritischen Einsichten und vielleicht auch zur einen oder anderen persönlich gefundenen Antwort auf unsere Ausgangsfrage: „Wer braucht schon Utopien?“
Die Herausgeber:innen
Daniela Holzer, Brigitte Kukovetz, Simone Müller, Jan Niggemann
Literatur
Bloch, Ernst (1959): Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bremer, Helmut; Kuhnhenne, Michaela (2017): Utopien als alternative Zukunftsentwürfe im Kontext von politischer Bildung, Arbeiten und Lernen. In: Dies. (Hg.): Utopien und Bildung, Study 356, Hans-Böckler-Stiftung, 7-10.
Castro Varela, María do Mar; Klug, Teo (2020): Utopien postkolonial – postkoloniale Utopien. In: malmoe 93. Online unter https://www.malmoe.org/2020/10/02/utopien-postkolonial-postkoloniale-utopien/ (24.06.2024).
Friedrichs, Werner (Hg.) (2022): Atopien im Politischen. Politische Bildung nach dem Ende der Zukunft. Bielefeld: transcript.
Haraway, Donna (2016): Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham: Duke University Press.
Negt, Oskar (2012): Nur noch Utopien sind realistisch. Politische Interventionen. Göttingen: Steidl.
Tsing, Anna Lowenhaupt; Swanson, Heather Anne; Gan, Elaine; Bubandt, Nils (Hg.) (2017): Arts of Living on a Damaged Planet. Ghosts and Monsters of the Anthropocene. Harrogate: Combined Academic Publishers.
Vanackere, Annemie; Reimann, Sarah (2018): Utopie und Feminismus. Berlin: Matthes und Seitz.
Autor:innen dieser Ausgabe
Herausgeber:innen
Daniela Holzer
Brigitte Kukovetz
Simone Müller
Jan Niggemann
Lukas Barth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten.
Malte Ebner von Eschenbach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Erwachsenenbildung/berufliche Weiterbildung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Thomas Fritz ist Lektor am Institut für Deutsch als Zweitsprache der Universität Wien mit dem Arbeitsschwerpunkt Mehrsprachigkeit.
Sarah Göhmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich 8: Sozialwissenschaften der Universität Bremen und dort Teil der Arbeitsgruppe Politikdidaktik.
Lukas Hofmann arbeitet als Universitätsassistent am Grazer Institut für Bildungsforschung und PädagogInnenbildung im Arbeitsbereich Bildungstheorie und Schulforschung.
Daniela Holzer, Assoziierte Professorin am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz, Arbeitsbereich Erwachsenen- und Weiterbildung
Petra Kolb studiert Politikwissenschaft und ist als Prae-Doc im Bereich Didaktik der Politischen Bildung an der Universität Wien angestellt.
Brigitte Kukovetz ist Universitätsassistentin am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz, Arbeitsbereich Migration – Diversität – Bildung.
Iris Mendel ist Universitätsassistentin am Institut für Bildungsforschung und PädagogInnenbildung der Universität Graz.
Simone Müller arbeitet und dissertiert am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz, Arbeitsbereich Erwachsenen- und Weiterbildung.
Jan Niggemann, Erziehungswissenschaftler und Erwachsenenbildner, arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Österreichischen Institut für Erwachsenenbildung, an der Uni Wien und der ZhdK Zürich.
Selina Obinger ist Studentin an der Pädagogischen Hochschule Weingarten & wissenschaftliche Hilfskraft im Arbeitsbereich Politikwissenschaft und ihre Didaktik.
Stefan Palaver ist Senior Lecturer am Arbeitsbereich Bildungstheorie und Schulforschung an der Universität Graz.
Sophia Schorr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Gender Studies und qualitative Methoden am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Goethe Universität in Frankfurt.
Maida Schuller (sie/ihr) ist Assistentin im Arbeitsbereich Didaktik der Politischen Bildung an der Universität Wien.
Lena Marie Staab vertritt aktuell die Professur für Pädagogik bei Beeinträchtigungen des schulischen Lernens an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg.
Stefan Vater ist Erwachsenenbildner und lehrt im Bereich Gender Studies an der Universität Wien.
Antje Winkler ist Kunstpädagogin und arbeitet seit 2023 an der Universität Potsdam im Bereich Kunst auf Lehramt.
Bestellen
Studienverlag: Schulheft 194
Strukturelle Diskriminierung und Bildung
Analysen, Interventionen, Wege
Klappentext
Bildungsgerechtigkeit ist ein zentrales Motiv für die Arbeit zahlreicher Akteur:innen im Bildungsbereich. Diskriminierende Bildungsverhältnisse bleiben jedoch auf bemerkenswerte Art und Weise veränderungsresistent, weil Verschränkungen zwischen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Bildungssystem strukturelle Diskriminierung legitimieren und normalisieren. Daher bleiben das „Wissen“ um die (De-)Privilegierung sozialer Gruppen und die damit einhergehenden Bemühungen, das Bildungssystem gerechter und sinnvoller zu gestalten, oft folgenlos.
In diesem schulheft liefern Akteur:innen aus ganz unterschiedlichen Bereichen Analysen, berichten von Interventionen und zeigen Wege auf.
Korrektur! Leider sind uns beim Text von Nutz Viktoria et al. „Postmigration macht Schule“ (S. 24 ff.) ein paar Fehler passiert. Wir entschuldigen uns hiermit und publizieren an dieser Stelle die fehlerlose Fassung: Postmigration macht Schule
Inhalt
Editorial
Sascha Regier
Zwischen Herrschaftssicherung und Emanzipation
Die Ambivalenz staatlicher Politischer Bildung
Viktoria Nutz, Lorena Puqja, Christoph Novak
Postmigration macht Schule*
Ein Plädoyer für mehr Chancengerechtigkeit im österreichischen Bildungssystem
Christa Markom
Diskriminierung durch Schulbücher
Ein Überblick über aktuelle Forschungsergebnisse
Tobias Buchner und Brigitta Höger
Ableismus-sensibel unterrichten
Theoretische Grundlagen und ein Praxisbeispiel
Bettina El-Ansari Girakhoo
MigrAnimations und Migratopia
Migration und Flucht ins Land der Fantasie
Stefan Unterberger
Die Wiener Lerntafel
Freiwillige Lernhilfe auf schwankendem Grund
Ilija Kugler
Strukturelle Diskriminierung in Stadt und Land
Berichte aus der Sozialarbeit
Susanne Fuhrmann
Zwischen den Stühlen?
Jugendliche Seiteneinsteiger:innen und individuelle Lernbedürfnisse in der Sekundarstufe I
Mario Keller
Perspektiven aus dem „Unterbau“
Strukturelle Diskriminierung und Prekarität im Wissenschafts- und Universitätsbetrieb
Lehrer:innen im ‚Brennpunkt‘
Zwei Rezensionen des gleichnamigen Buches von Hauke Straehler-Pohl
Autor:innen dieser Ausgabe
* Die korrigierte Fassung des Beitrages „Postmigration macht Schule“ findet man unter dem Reiter Klappentext der Nummer 193.
Editorial
Bildungsgerechtigkeit ist ein zentrales Motiv für die Arbeit zahlreicher Akteur:innen im pädagogischen Bereich. Zugleich ist Bildungsungleichheit ein Dauerbefund in der soziologischen und bildungswissenschaftlichen Forschung: „Ein bildungsferner Hintergrund, ein niedriger sozioökonomischer Status der Familie sowie eine nichtdeutsche Alltagssprache erschweren jeweils für sich genommen den Bildungserfolg.“ (NBB 2018: 28) Das statistische Bild ist eindeutig und spitzt sich sogar für manche soziale Gruppen weiter zu: „Liegen mehrere dieser Faktoren gleichzeitig vor, so wird von einer Kumulation sozialer Risikofaktoren gesprochen, die einem erfolgreichen Bildungserwerb umso hinderlicher sein können.“ (ebd.)
Die Forschungserkenntnisse sprechen dafür, dass Bildung innerhalb von sozialen Machtverhältnissen stattfindet und dass das Bildungssystem und in weiterer Folge die Schule Ungleichheit strukturell reproduzieren. Dabei handelt es sich nicht um eine aktuelle Abweichung vom meritokratischen common sense, sondern um historische Kontinuitäten: Die Geschichte der Schule ist seit Beginn eine Erzählung über Selektion und über die Verteilung von Privilegien durch Bildung entlang der sozialen Klassen.
Am Beispiel der bildungsbiographischen Relevanz vom „bildungsfernen Hintergrund“ lässt sich dieses bildungspolitische Kontinuum strukturell gut verfolgen. Bestimmte Gruppen wurden „systematisch von der Bildung ferngehalten“ (Castro Varela 2015), weshalb es sich nicht um bildungsferne, sondern eher um bildungsentfernte Gruppen handelt: „Wenn beispielsweise behauptet wird, dass bildungsentfernte Gruppen kein Interesse an Bildung haben, und mit dieser Behauptung ihr Versagen in den Schulen erklärt wird, so liegt dieser Aussage auch die implizite Annahme zugrunde, dass es ein natürliches Begehren gäbe, dumm zu bleiben. Eine Ansicht, die rassistischen Vorstellungen gefährlich nahekommt.“ (ebd.) „Bildungsferne“ ist demnach keine individuelle Laune, sondern ein Merkmal struktureller Diskriminierung, das vor allem in der Migrationsgesellschaft ebenso mit den postkolonialen Verhältnissen eng zusammenhängt.
Marginalisierung im Bildungsbereich ist insgesamt nicht etwas Schicksalhaftes, das aufgrund der sozialen Herkunft stattfindet. Bildungsungleichheit ist vielmehr das Ergebnis einer (De-)Privilegierung, die das Ineinandergreifen von mehreren gesellschaftlichen Systemen und institutionellen Prozessen voraussetzt. Damit sind auch jene Prozesse gemeint, die eine Reihe von sozialen Kategorien wie race, class, gender aber auch Sprache, Herkunft, Körper, Dis-/Ability, Religion etc. als Ausgangspunkt nehmen.
Ungeachtet wissenschaftlicher Erkenntnisse werden jedoch bildungspolitisch weiterhin Prozesse befürwortet und verteidigt, die die soziale Ordnung aufrechterhalten. Denn internationale Vergleiche wie PISA weisen beispielsweise auf die negativen Ergebnisse bei Lese- und Mathematikkompetenzen durch die frühe Selektion bzw. Trennung der Schüler:innen – ausgehend von einer notenbasierten Leistungsheterogenität – in Österreich hin. (OECD 2015) Die überwiegend öffentlichen Gesamtschulen in Kanada mit einem der höchsten Anteile an Schüler:innen mit Migrationsbiographien und Familiensprachen, die nicht die Unterrichtssprache sind, erzielen dafür im OECD-Vergleich die höchste durchschnittliche Lesekompetenz bzw. den höchsten Anteil an Spitzenleser:innen. (Herzog-Punzenberger 2018: 7)
Das von der Forschung umfangreich produzierte Wissen über Bildungsungleichheit, Diskriminierung und Privilegien bzw. den Einfluss von Differenzkategorien auf Bildungsbiographien und gesellschaftliche Machtverhältnisse bewirkt selten positive strukturelle Veränderungen. Im Gegenteil: Das produzierte kritische Wissen zu Bildungsungleichheit wird von sogenannten „bildungsnahen“ sozialen Gruppen überwiegend für die Verfestigung der eigenen Privilegien genutzt – siehe die aktuellen Dynamiken zur Schulwahl. (Nimmervoll 2024) Rassistische Praktiken wie das Meiden von Schüler:innen mit der „falschen“ Herkunft werden als „Normalität“ betrachtet. Diese Akteur:innen verschaffen sich vor allem durch das wissenschaftlich erhobene Wissen über die Bedeutung von Bildungsprivilegien Rechtfertigung. (ebd.)
Diskriminierende Bildungsverhältnisse bleiben auf bemerkenswerte Art und Weise veränderungsresistent, weil Verschränkungen zwischen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Bildungssystem strukturelle Diskriminierung legitimieren und „normalisieren“. Daher ist das „Wissen“ um die (De-)Privilegierung sozialer Gruppen gegenüber den Bemühungen, das Bildungssystem gerechter und sinnvoller zu gestalten, oft folgenlos. Das Hinterfragen von bestehenden Strukturen und geglaubten Normalitäten bleibt ein immerwährend anzugehender Prozess, dem sich diese Ausgabe des schulheft erneut widmet: Die Beiträge des schulheft 193 setzen sich mit unterschiedlichen Themen struktureller Diskriminierung in der Bildung auseinander, diskutieren Konzepte sowie geben Beispiele und Berichte aus der Bildungspraxis, die Mut machen, der „Chancengerechtigkeit durch Bildung“ ein Stück näher zu kommen.
Sascha Regier zeichnet in seinem Beitrag die Ambivalenzen staatlicher Politischer Bildung nach. Durch den Verlust des Kritischen, bzw. der kritischen Reflexion, und mit dem Fokus auf (neoliberale) Kompetenzen wird Bildung immer mehr zum Spielball politischer Interessen. Bildung im Staat wird somit zum Ort der Herrschafts- und Wettbewerbssicherung, kann aber dennoch weiterhin als ein Ort der Emanzipation betrachtet werden. Diesem Doppelcharakter setzt Regier einen kritischen Ansatz der Politischen Bildung gegenüber. In diesem kritischen Bildungsverständnis werden Schüler:innen nicht als Humankapital betrachtet, die staatlich formiert werden. Bildung erfasst hierbei nicht nur gesellschaftliche Zusammenhänge und Herrschaftsverhältnisse, sondern zielt auf Mündigkeit und Emanzipation.
Viktoria Nutz, Lorena Puqja und Christoph Novak setzen sich mit dem Konzept der postmigrantischen Gesellschaft auseinander. Sie diskutieren den aktuellen Stand der Forschung zur strukturellen Bildungsdiskriminierung und hinterfragen die Herstellung von „Anderen“ im Bildungssystem. Die Autor:innen problematisieren in ihrem Beitrag sowohl die Benachteiligung von Schüler:innen mit sogenanntem ‚Migrationshintergrund‘ als auch die Verfestigung und Essentialisierung von solchen sozialen Kategorien.
Schulbücher, so heißt es, fungieren als eine Art geheimer Lehrplan und werden – da sie durch eine Fachkommission approbiert wurden – mitunter unhinterfragt angewandt, wiewohl ein Überblick über aktuelle Forschungen zeigt, dass Diskriminierungen wie Rassismen oder Sexismen in Schulbüchern vorkommen. Christa Markom hat einschlägige Forschungsergebnisse für dieses schulheft zusammengetragen und will damit nicht nur diskriminierende Inhalte aufzeigen, vielmehr Lehrkräfte und Schüler:innen sensibilisieren und anregen, Schulbuchtexte kritisch zu hinterfragen. Dafür gibt Markom am Ende ihres Beitrages zwei praktische Anregungen.
Die beiden Autor:innen Tobias Buchner und Brigitta Höger skizzieren in ihrem Beitrag nicht nur die theoretischen Grundlagen des Konzepts von „Ableismus“ (engl. Ableism), sondern sie stellen auch ein konkretes Praxisbeispiel aus dem Kontext der ableismus-sensiblen Pädagogik vor. Sie gehen hierbei auf das Unterrichtsprinzip der Mehrperspektivität ein, um zu zeigen, wie Bewegungs- und Sportunterricht ableismus-sensibler gestaltet werden kann. Mit diesem Ansatz können Formen der fähigkeitsbezogenen Hierarchisierung und Diskriminierung zum Teil vermieden werden.
Bettina El-Ansari Girakhoo erzählt in ihrem Beitrag über das einjährige Projekt MigrAnimations, das sie als Lehrerin mit einer ersten Volksschulklasse durchführte. Sie beschreibt darin dieses Kunstprojekt, wo Kinder ihre Gedanken zu den brisanten Themen wie Flucht, Migration und Diversität auf einer künstlerischen Art und Weise kommunizierten und sich darüber austauschen konnten. Die Kinder dachten sich ein fantastisches Land namens Migratopia aus, wo sich alle zuhause fühlen können.
Stefan Unterberger schildert die wechselvolle Geschichte der Wiener Lerntafel, einer ursprünglich aus Spenden finanzierten Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hat, Kindern aus deprivilegierten Familien mittels professioneller Lernhilfe zu einem erfolgreichen Schulabschluss zu verhelfen. Er liefert damit ein eindrucksvolles Beispiel der Möglichkeiten (und Grenzen) der Freiwilligen-Arbeit oder des „sozialen Kapitals“ im Sinne von Arbeitsleistungen, die zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen.
Die vergleichbare Dynamik struktureller Diskriminierung in Stadt und Land verdeutlicht Ilija Kugler in seinem spannenden Praxisbericht mit analytischer Perspektive. Im Mittelpunkt stehen seine Erfahrungen als Sozialarbeiter im Wiener Bezirk Simmering und im niederösterreichischen Bezirk Korneuburg. Kugler analysiert, wie die städtische als auch die ländliche Konstruktion und Anrufung von „Normen“ dazu führen, dass Kinder und Jugendliche ungerecht behandelt werden bzw. sich auch ungerecht behandelt fühlen.
Auf die Situation von 10-15jährigen Schüler:innen, die als sogenannte „Seiteneinsteiger:innen“ in das österreichische Bildungssystem einsteigen und die davor keinen oder kaum Zugang zu institutionalisierter Bildung hatten, möchte Susanne Fuhrmann aufmerksam machen. Anders als Kindern, die in der Elementar- oder Primarstufe ins Bildungssystem einsteigen, lässt die Struktur des Schulsystems den „späten Seiteneinsteiger:innen“ wenig Zeit: Wenn sie auch große Lernfortschritte erzielen, so reicht das meist nicht aus, für das Fortkommen im regulären Bildungssystem oder im Erwerbsleben versprechende Perspektiven zu schaffen. Fuhrmanns Auseinandersetzung mit den bestimmenden Faktoren und Rahmenbedingungen soll eine bessere Einschätzung der Situation und Verständnis für den Bedarf an benötigter Unterstützung, die der strukturellen Diskriminierung entgegenwirkt, bringen.
Mario Keller konstatiert in seinem Beitrag eine strukturelle Prekarität im Wissenschafts- und Universitätsbetrieb. Im Zuge der universitären Protestbewegungen entstand die „Initiative Unterbau“ die sich gegen die Novellierung des Universitätsgesetzes (§109) und somit gegen „Kettenverträge“ und die damit einhergehenden prekären Arbeitsbedingungen im Wissenschafts- und Universitätsbetrieb zur Wehr setzen möchte.
Anschließend liefern wir zwei Rezensionen des eindrucksvollen Buches von Hauke Straehler-Pohl „Lehrer:innen im ‚Brennpunkt‘“. Onur Aksünger zeichnet in seiner Rezension ein genaues inhaltliches Bild des Buches nach, in dem nicht die wissenschaftliche Auseinandersetzung, sondern die authentischen Stimmen bzw. Texte im Mittelpunkt stehen. Denn Strahler-Pohl liefert einen in mancher Hinsicht überraschenden Text, als er – neben der wissenschaftlichen Analyse, wie Lehrer:innen die Problematik sehen, also der Sicht „von außen“ – auch die (unkommentierten) Gesprächsprotokolle selbst abdruckt, also die Sicht „von innen“. Diesen Aspekt, dass diese unterschiedlichen Sichtweisen im Endeffekt gleichberechtigt nebeneinander stehen bleiben, hebt Michael Sertl in einer zweiten Rezension gezielt hervor. Straehler-Pohl greift dabei auf Pierre Bourdieu zurück, der in seinen späten Arbeiten scharfe Kritik an der „scholastischen Vernunft“ der Wissenschaft geübt hat und die notwendige Unterscheidung zwischen der „Logik der Forschung“ und der „Logik der Praxis“ betont.
Literatur:
Castro Varela, María do Mar (2015): Strategisches Lernen. Zeitschrift Luxemburg – Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 2. Online unter: https://www.zeitschrift-luxemburg.de/strategisches-lernen/ (letzter Zugriff 17.03.2024).
Herzog-Punzenberger, Barbara (2018): Selektion in der Bildungslaufbahn. Policy Brief #06. Arbeiterkammer Wien. Online unter: https://wien.arbeiterkammer.at/migration-und-mehrsprachigkeit (letzter Zugriff 17.03.2024).
NBB (Nationaler Bildungsbericht) (2018): Band 1 – Das Schulsystem im Spiegel von Daten und Indikatoren. Online unter: https://www.iqs.gv.at/downloads/bildungsberichterstattung/nationaler-bildungsbericht-2018 (letzter Zugriff 17.03.2024).
Nimmervoll, Lisa (2024): Schuleinschreibung. Bildung nach Postleitzahl: Wie Kinder nach Sprache und sozialer Herkunft sortiert werden In: Der Standard vom 10. Februar 2024. Online unter: https://www.derstandard.at/story/3000000206848/bildung-nach-postleitzahl-wie-kinder-nach-sprache-und-sozialer-herkunft-sortiert-werden (letzter Zugriff 17.03.2024).
OECD (2015) Helping immigrant students to succeed at school – and beyond. Paris: OECD Publishing. https://www.oecd.org/education/Helping-immigrant-students-to-succeed-atschool-and-beyond.pdf (letzter Zugriff 17.03.2024).
Autor:innen dieser Ausgabe
Herausgeber:innen dieser Ausgabe
Doris Englisch-Stölner
Assimina Gouma
Josef Mühlbauer
Michael Sertl
Onur Aksünger, M.Ed., Grundschullehrer und Psychologiestudent. Interessensgebiet: soziale und ethnische Ungleichheiten im Kontext Schule. aksuenger.o@gmail.com
Tobias Buchner, Hochschulprofessor und Leiter des Instituts für Inklusive Pädagogik der PH OÖ. Forschungsschwerpunkte: Inklusive Pädagogik, Bildung und Raum, Dis/ability Studies in Education, Ableism im Bildungssystem. tobias.buchner@ph-ooe.at
Bettina El-Ansari Girakhoo, ehemalige Volksschullehrerin an der OVS Grundsteingasse, 1160 Wien. Schulleiterin an der GTVS Kunterbunt, Halirschgasse, 1170 Wien. bettina.el-ansari-girakhoo@schule.wien.gv.at
Doris Englisch-Stölner, Ethnologin, Grundschullehrerin und seit mehreren Jahren Mitarbeiterin im Sprachförderzentrum Wien der Bildungsdirektion Wien. doris.e-stoelner@bildung-wien.gv.at
Susanne Fuhrmann, Lehrerin an der Mittelschule Lortzinggasse in Wien 14, Mitarbeiterin im Sprachförderzentrum der Bildungsdirektion Wien und Projektmitarbeiterin am BIMM (Bundesinstitut für Migration und Mehrsprachigkeit). susanne.fuhrmann@edu.magwien.gv.at
Assimina Gouma, Kommunikationswissenschafterin und Soziologin, Hochschulprofessorin am Institut für Urban Diversity Education, PH Wien. assimina.gouma@phwien.ac.at
Brigitta Höger, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Inklusive Pädagogik an der PH OÖ und am Institut für Sport- und Bewegungswissenschaft der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Diversität, Intersektionalität, Körperlichkeit und Digitalisierung im Bewegungs- und Sportunterricht, brigitta.hoeger@ph-ooe.at
Mario Keller ist Historiker, lebt in Wien und setzt sich für die Initiative „Unterbau Uni Wien“ ein. Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. unterbau_uniwien@nuwiss.at
Ilija Kugler, Sozialwissenschafter und Sozialarbeiter, Regionsleiter für die Bezirke Tulln und Korneuburg bei
Rettet das Kind NÖ, Lektor an der FH Campus Wien. ilija.kugler@gmail.com
Christa Markom, Senior Lecturer am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien; Forschungsschwerpunkte: Bildungsanthropologie, Diskriminierung und Migration, Intersektionalität, Schulbuchforschung. christa.markom@univie.ac.at
Josef Mühlbauer, Politikwissenschaftler, Philosoph, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Demokratiezentrum Wien. josefmuehlbauer@gmx.at
Christoph Novak, Politikwissenschafter am Institut für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. christoph.novak@oeaw.ac.at
Viktoria Nutz, Studentin im Master Politikwissenschaft und ehemalige Mitarbeiterin am Institut für Staatswissenschaften der Universität Wien. Forschungsinteresse: österreichische Bildungs- und Integrationspolitik aus der Perspektive der sozialen Ungleichheit. viktoria.nutz@univie.ac.at
Lorena Puqja, Staatswissenschaftlerin und angehende Politikwissenschaftlerin an der Universität Wien. Projektleiterin der NGO GermanDream. lorena.puqja@gmail.com
Sascha Regier, promovierter Soziologe und Lehrer in Köln. sascharegier@posteo.de
Michael Sertl, ehemaliger Hauptschullehrer, Soziologe. Prof. für Humanwissenschaften an der PH Wien (i.R.). michael.sertl@aon.at
Stefan Unterberger, Systemischer Coach, Beziehungs- und Kommunikationswissenschafter, ehemaliger FH-Lektor, Gründer und Obmann der Initiativen WIENER LERNTAFEL sowie ELTERNRAUM, ist gerne äußerlicher Anlass der Freude anderer Menschen. stefan.unterberger@lerntafel.org
Bestellen
Studienverlag: Schulheft 193
Technik und Design
Die neue Dimension der Werkpädagogik
Klappentext
Inhalt
Editorial
Grundsätzliches – Zur Lehre von Ideen und Dingen
Ingrid Maria Hackl
Vom Umgang mit der Schwerkraft der Ideen und über die Wirkmacht der Dinge
Die Chancen und die gesellschaftliche Bedeutung des Faches „Technik und Design“
Marion Starzacher
Das Praxishandbuch „Technik.Design.Werken“
Ein methodisch-didaktisches Tool zur Unterrichtsgestaltung
Monika Holzer-Kernbichler
Objekt, Objekt!
Der Ambiguität verpflichtet (oder: Kulturwissenschaften für „Technik und Design“)
Gert Hasenhütl, Marc de Vries
Technische Bildung international
Ein Gespräch mit Marc de Vries
Materialität – Material Literacy
Camilo Ayala-Garcia, Stefano Parisi, Barbara Pollini, Martina Taranto, Valentina Rognoli
Do it Yourself!
Der DIY-Ansatz zur Entwicklung von Materialien für einen ökologischen Wandel
Cornelia Zobl
Material Literacy
Zu den Möglichkeiten für das (neue) Unterrichtsfach „Technik und Design“
Ingrid Maria Hackl
Materialität und ihre Triggerpunkte
Dominik Gumpenberger
Die Welt ist Material!
Ein Plädoyer für Forschung und Experiment mit Materialien und Werkstoffen im Fach „Technik und Design“
Schule und Unterricht – Technik und Design in Beispielen
Georg Jaroschka
Project 2061
Technik und das andere Design
Ingrid Maria Hackl
Problemzonen in der Schule
Timo Finkbeiner
Technik im Kontext inklusiven Unterrichts
Karin Gollowitsch, René Stangl
Fantastische Wesen werden zum Leben erweckt
Einblicke in das Konzept der Erfahrungswerkstätte im Studium Technische und Textile Gestaltung
Christina Adorjan, Elisabeth Lehner
Der Kaffeelöffel im Schneidplotter?
Schablonieren und Elektroätzen von Edelstahl
Dorothea Erharter
Die Robo4earth
Ein didaktisches Konzept zur Verbesserung der Welt
Autor:innen dieser Ausgabe
Editorial
Technik und Design
„Technik und Design“– so lautet der neue Name für einen in Wirklichkeit alten Bildungsbereich. Unter Begriffen wie „Werken“, „Werkerziehung“ oder „Technische Bildung“ hat sich das schulheft diesem Thema schon einige Male angenommen.[1]
Das schulheft 89 „Hauptfach Werkerziehung“ blickte 1998 auf die Realisierung der seit Ende der 1970er Jahre neu formulierten Lehrpläne der Einzelfächer „Technisches Werken“ und „Textiles Werken“ zurück, deren Strukturen und Lerninhalte sich weitgehend von den ehemaligen Aufgaben der Knaben- und Mädchenhandarbeit unterschieden. Dennoch spiegelte der Rückblick auf diese zwei Jahrzehnte der schulischen Werkerziehung keine Erfolgsgeschichte. Trotz des einstmals beinahe als revolutionär zu bezeichnenden Bekenntnisses zu den gesellschaftlich breit anerkannten Bereichen Architektur, Design, Alltagskultur, Kleidung/Textilien und Technik hatten die Fächer in der Schulrealität wenig an Wertschätzung dazugewonnen.
Die zwei darauffolgenden Ausgaben des schulheft haben auf die Notwendigkeit von technischer Allgemeinbildung hingewiesen. 2007 legte das schulheft 128 unter dem Titel „Technik weiblich!“ mit der Analyse von mädchen- und frauenzentrierten Fördermaßnahmen von der Früherziehung über die Schule bis zum Beruf den Fokus auf das Thema der technischen Bildung für junge Frauen und Mädchen. Die Nummer 150 formulierte 2013 mit „ein/fach Technik“ Plädoyers zur technischen Bildung für alle. Beiträge aus Deutschland, Österreich, Finnland und der Schweiz nahmen zur Theorie und Praxis des Technikunterrichts Stellung, betrachteten die Entwicklungen des zentralen Schulfachs für technische Bildung, den Werkunterricht, richteten den Blick auf Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter und thematisierten den Zugang zur technischen Bildung und zu geschlechtsspezifischen Einflussfaktoren bei der Wahl von technischen Studien und Berufskarrieren.
Längst ist es müßig zu betonen, dass wir in einer Welt leben, die sich dem Fortschritt und der Innovation verpflichtet hat, deren Mechanismen und Folgen ob ihrer Komplexität immer weniger abgeschätzt werden können. Es ist nötiger denn je, Menschen technisch zu bilden und ihnen technische Kompetenzen zu vermitteln. Der Werkunterricht bietet Kindern und Jugendlichen die erste – und oftmals einzige – Möglichkeit, sich in der Schule und in anderen gesellschaftlichen Bereichen mit den Themen Technik, Design, Kreativität und Handwerk auseinanderzusetzen.
Der neue Lehrplan „Technik und Design“ für die Primarstufe und die Sekundarstufe I verspricht nun, diese von Expert:innen jahrelang geforderten Bildungsbereiche schulpraktisch aufzuarbeiten. So heißt es etwa in der Bildungs- und Lehraufgabe des neuen Lehrplans der Volksschule: „Technik und Design stehen in vielen Bereichen der Gestaltung der Lebensumwelt miteinander in Beziehung. Design ist als Gestaltungs- und Problemlösungsprozess vom Entwurf bis zur Entwicklung von Gegenständen und Systemen zu verstehen. Technik meint alle vom Menschen hergestellten funktionellen Gegenstände, deren Produktion und An- bzw. Verwendung.
[…] Die kognitive Begegnung mit und der Transfer zur technischen und gestalteten Wirklichkeit werden dabei angebahnt und die Basis für Technikmündigkeit gelegt. Wahrnehmung, Experimentierfreude, Spontaneität, Flexibilität und Kreativität nehmen einen zentralen Stellenwert ein. Die Entwicklung von Selbstkompetenz, Eigenverantwortung, Kooperationsbereitschaft, Kommunikations- und Teamfähigkeit wird gezielt gefördert.“[2]
Im Lehrplan der Sekundarstufe I wird der Bildungsauftrag ähnlich formuliert: „Technik und Design stehen in vielen Bereichen der Lebensbewältigung und -gestaltung miteinander in Beziehung. Design ist als ganzheitlicher Gestaltungs- und Problemlösungsprozess zu verstehen. Der Prozess berücksichtigt bereits im Entwurf alle Schritte des Lebenszyklus: Entwicklung von Systemen und Gegenständen, Herstellung, Recycling, Abbau oder Entsorgung. Zur Technik gehören Produkte oder Sachsysteme und alle Prozesse und Handlungen (Verfahren, Fertigkeiten), in denen diese entstehen, verwendet und entsorgt werden. Design- und Technikprozesse münden in Erkenntnis-, Kompetenz- und Wissensgewinn. Damit hat der Unterrichtsgegenstand Relevanz für die aktuellen und zukünftigen Erlebniswirklichkeiten und Lebensrealitäten von Schülerinnen und Schülern und schafft so die Basis für Innovation und Weiterentwicklung in modernen Wissensgesellschaften.“
Es ist ein ganzheitlicher Ansatz, mit dem technische Bildung im Schulfach „Technik und Design“ ermöglicht werden soll. Gerade durch die Zusammenlegung von „Technischem und textilem Werken“ wird ein Technikbegriff geboten, der nicht auf die einzelnen Teile der ehemaligen Einzelfächer eingeschränkt, sondern weiter gefasst ist und gesamtheitlich im Einklang mit der Gestaltung betrachtet wird.
Durch die Breite der Bildungsaufgaben sowie des Kompetenzaufbaus bildet das Fach „Technik und Design“ ein Trägerfach im Kanon der MINT bzw. der STEM-Fächer, nämlich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie). Durch die Betonung des Design wird zudem der Anschluss der MINT-Fächer an die STEAM-Fächer (STEM erweitert durch Arts), an Kunst, die Geistes- und Humanwissenschaften geöffnet. Diese Erweiterung folgt der Annahme, dass für die MINT-Fächer in Verbindung mit den spezifischen Bildungs- und Forschungsmethoden der Kunst-, Kultur- und Geisteswissenschaften mehrdimensionale und fruchtbarere Forschungsergebnisse erreicht werden können. Technik soll nicht mehr als schiere Berufsmöglichkeit verstanden werden, sondern als integrativer Teil der Bildung, der Herausforderungen und Möglichkeiten bietet. Technik und Design, so auch der curriculare Tenor, liegen quer in allen Bereichen des Lebens und beeinflussen es wirkmächtig wie nachhaltig, „Technik und Design“ sind alltagsrelevant. Kein Wunder also, dass der Aufruf zum erneuten Abarbeiten am Unterrichtsfach „Technik und Design“ eine breite Palette an impliziten und expliziten Auseinandersetzungen der Autor:innen mit den Aufgaben des neuen Fachs zeigt.
Die vorliegende Ausgabe des schulheft nimmt dementsprechend den Fachnamen des neuen Lehrplans zum Titel, um auf die nun erreichte Spezifik des Unterrichts- und in weiterer Folge des Studienfachs hinzuweisen. In drei Kapiteln kommt es zur Auseinandersetzung über Grundsätzliches und Theoretisches, zu den Rahmenbedingungen und zu Beispielen für die Unterrichtspraxis. Das erste Kapitel ist gleichsam als Einführung gedacht, das zweite nimmt sich des aktuellen Gestaltungs- und Forschungsprinzips um Materialität und Material Literacy an. Das dritte Kapitel blickt auf die Realität der Schule und bietet Unterrichtsbeispiele.
Grundsätzliches – Zur Lehre von Ideen und Dingen
Ingrid Maria Hackl lässt uns unter dem poetischen Titel „Vom Umgang mit der Schwerkraft der Ideen und über die Wirkmacht der Dinge“ einen breit gefächerten Blick auf „Die Chancen und die gesellschaftliche Bedeutung des Faches ‚Technik und Design‘“ werfen. Die Autorin überblickt die Entwicklung der Lehrpläne des „Technischen und textilen Werkens“ seit Mitte der 1970er Jahre bis zum Status quo und bespricht u.a. die seit damals schrittweise erreichten Neuerungen der mehrmals novellierten Lehrplantexte, thematisiert die durch die Curriculumsentwicklung veränderte Lehramtsausbildung, beantwortet die Genese des Fachnamens, beleuchtet die neueingeführten fächerübergreifenden Kompetenzen und den Stellenwert des Faches im Zusammenhang mit den anderen MINT-Fächern. Angesichts der äußerst komplexen und globalen Probleme unserer Umwelt wurde nach Hackl mit „Technik und Design“ eine wichtige Stellschraube zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung geformt.
Marion Starzacher stellt das Praxishandbuch „Technik.Design.Werken“ als ein „methodisch-didaktisches Tool zur Unterrichtsgestaltung“ für das Fach vor. Die Planung und Gestaltung des Unterrichts in Primar- und Sekundarstufe wird durch bereits mehrfach erprobte Beispiele, inhaltlich sowie fachdidaktisch, unterstützt. In der Breite seiner Beispiele regt das Praxishandbuch Inspiration und Motivation an, Neues in den Unterricht zu implementieren, um den Schüler:innen die Freude am Tun und Denken näherzubringen.
Monika Holzer-Kernbichler ermuntert, nicht nur zur Befruchtung der Lehrer:innenausbildung den Blick in andere Fachdidaktiken zu werfen. Mit „Objekt, Objekt! Der Ambiguität verpflichtet (oder: Kulturwissenschaften für Technik und Design)“ greift die Autorin auf ihre Erfahrungen aus der Kunstvermittlungspraxis zurück, um aufzuzeigen, wie dort Erprobtes für die Ausbildung fruchtbar gemacht werden kann. Werkbeispiele aus der Geschichte des Kunstgewerbes und Industriedesigns ermöglichen in Schule und Lehrer:innenbildung kreative, kritische oder handwerkliche Impulse für das eigene Tun im Unterricht.
Gert Hasenhütl befragte einen führenden Experten für Technische Bildung, den an der TU Delft lehrenden Pädagogen Marc de Vries, über den allgemeinen Stellenwert der Technischen Bildung und ihren Stand in anderen Bildungssystemen. Dieses Interview ist Teil des von Gert Hasenhütl konzipierten und durchgeführten Forschungsprojektes: „Technik und Design transdisziplinär“.
Materialität – Material Literacy
„Technik und Design“ ist wie andere Schul- und Studienfächer dem Bewusstmachen von kritischen Situationen verpflichtet, die Herausforderungen für unsere Gesellschaft benennen. Vor diesen Herausforderungen ist unsere Problemlösekompetenz gefragt, um Lösungen für die Auswirkungen menschlichen Handelns auf unsere Erde zu entwickeln. Die Forscher:innengruppe um Valentina Rognoli bringt mit dem Bericht zu dem „DIY-Ansatz zur Entwicklung von Materialien für einen ökologischen Wandel“ spannende Anregungen für Unterrichtsprojekte unter dem Aspekt, neue Materialen zu erforschen. „Do it Yourself!“ und materialbezogenes Entwerfen beschreibt Wege zu einer Reihe biobasierter, biofabrizierter Materialien, die auf einen ökologischen Wandel hinweisen.
Den in diesem DIY-Ansatz grundgelegten Bereich der „Material Literacy“ nimmt Cornelia Zobl zum Ausgangspunkt, um „Möglichkeiten für das (neue) Unterrichtsfach Technik und Design“ auszuloten. Gerade die Erkundung jener Materialien, die traditionell bisher den beiden Fächern „Technisches Werken“ und „Textiles Werken“ zugeordnet wurden, können/sollen produktiv im neuen Fach aufgehen. Dabei würden Verfahrensweisen zum einen der Erschließung neuer Materialanwendungen dienen, zum anderen könnten sie zu neuen Materialien und Produkten führen.
Materialien können Auslöser für eine Kaskade an Sinneseindrücken sein, so Ingrid Maria Hackl in „Materialität und ihre Triggerpunkte“. Mit den menschlichen Sinnesorganen aufgenommen und verarbeitet, werden durch Materialien visuelle, haptische, gustatorische und olfaktorische Wahrnehmungen angeregt. Die Autorin unternimmt einen kurzen Ausflug in die ästhetische und haptische Perzeption, um zu vermitteln, welchen Einfluss Materialität auf uns ausübt und wie der Umgang mit ihr gepflegt werden kann.
Nach einer kurzen Abhandlung über die Bedeutung von Materialien und Werkstoffen für Gesellschaft und Designer:innen verweist Dominik Gumpenberger auf bewährte didaktische Ansätze des handlungs- und prozessorientierten Unterrichts – allerdings mit dem speziellen Fokus auf die Materialforschung im Bereich „Technik und Design“. Der Autor versteht sein „Plädoyer für Forschung und Experiment mit Materialien und Werkstoffen im Fach Technik und Design“ gleichsam als Manifest: „Die Welt ist Material!“
Schule und Unterricht – Technik und Design in Beispielen
Bevor zu Ende dieses Abschnitts erprobte Projekte aus Lehrer:innenausbildung, schulischem und außerschulischen Unterricht zum Motivieren anregen, verweisen die ersten Texte auf die Rahmenbedingungen, die „Technik und Design“ befördern oder behindern.
Georg Jaroschka übertitelt seinen Beitrag zur „Technik und das andere Design“ mit „Project 2061“, dem Namen jenes US-amerikanischen Bildungskonzepts, das alle Amerikaner:innen bis zum Jahr 2061 MINT-fit machen will. Der Autor führt die Leser:innenschaft visionär durch die Landschaft einer äußerst großzügigen Ausweitung der schulischen „hands-on/minds-on“ Pädagogik, die die Forderung erhebt, technische und gestalterische/Design Bildung in allen Schulstufen einzusetzen und die Ausbildungsstätten dementsprechend auszustatten.
Lehrpläne mit ihren Ideen wollen umgesetzt werden. Dass dies nicht immer so leicht ist, machen die „Problemzonen in der Schule“ deutlich. Einige dieser Problemzonen sind nicht dem Lehrplan geschuldet, sondern resultieren aus strukturellen Maßnahmen der Vergangenheit, die noch immer ihre Wirkung auf der Ebene des Unterrichts entfalten. Auf sie verweist Ingrid Maria Hackl. Den Problemen mit Gruppengrößen und Sicherheitsvorschriften, der leichtfertigen Verwendung von Werkpackungen, den Herausforderungen der Lehrer:innenausbildung und dem Lehrer.innenmangel ist – unter anderem – mit der Bereitschaft zur Fort- und Weiterbildung und durch eine intensive Zusammenarbeit der Fachcommunity zu begegnen.
Dass „Technik und Design“ auch in der inklusiven Pädagogik einen zentralen Platz haben muss, zeigt Timo Finkbeiners Beitrag „Technik im Kontext inklusiven Unterrichts“. Er stellt grundlegende Aspekte inklusiver Pädagogik und des technikbezogenen Unterrichts zur Disposition und skizziert, mit Blick auf die Unterrichtspraxis, Impulse für einen inklusiven Unterricht. Ein sich daraus ergebender Diskurs, versteht sich als Anregung, das Thema sowohl vielfältig als auch spezifisch zu betrachten und mögliche Optionen für einen inklusiveren Unterricht zu entwickeln.
Wie die Fachbereiche des „Technischen Werkens“ und „Textilen Gestaltens“ in der Ausbildung der Grundkompetenzen zusammengeführt werden können, dem nimmt sich die Lehrer:innenbildung im Verbund Süd-Ost an. Karin Gollowitsch und René Stangl bringen „Einblicke in das Konzept der Erfahrungswerkstätte im Studiengang Technische und Textile Gestaltung“. In dieser Lehrveranstaltung sollen im ersten Semester Studierende einerseits für Material- und Werkstoffqualitäten und deren Erscheinungsformen sensibilisiert werden, andererseits ihre eigene kreative Ausdrucksweise erweitern: „Fantastische Wesen werden zum Leben erweckt“.
Immer häufiger wird der Schulunterricht durch außerschulische Kurse und Projekte befruchtet. Christina Adorjan und Elisabeth Lehner führen mit „Schablonieren und Elektroätzen von Edelstahl“ eine von zahlreichen Möglichkeiten vor, wie Making und Tinkering-Ansätze in den Unterricht einfließen können. Die Autorinnen beschreiben die Vorgehensweise zur Vorbereitung und Herstellung von Zeichen oder Schriften auf Metalloberflächen durch ein Ätzverfahren, das auch ohne spezifische Geräte, wie Schneidplotter oder Lasercutter, durchgeführt werden kann.
Mit einem weiteren innovativen Konzept, das in einer außerschulischen Bildungsinitiative entstanden ist, schließt das schulheft das Thema „Technik und Design“. Dorothea Erharter stellt mit „Die Robo4earth“ – sie nennt es auch „Ein didaktisches Konzept zur Verbesserung der Welt“ – ein erprobtes Projekt vor, verknüpft es doch Robotik mit den Sustainable Development Goals der UNO. Das Konzept wurde für einen motivierenden Einstieg in Technik, Design und Programmieren entwickelt und will besonders Mädchen für eine Technik-Karriere motivieren.
Lesen Sie die Beiträge des schulheft, mögen Sie durch sie neue Erkenntnisse gewinnen, Bereicherung, aber auch Bestätigung erhalten. Doch wie hieß es in dem frühen schulheft 89 zur Werkerziehung: Ein schulheft zur Werkerziehung muss Leerstellen enthalten – ein schulheft zu „Technik und Design“ natürlich auch. Arbeiten wir gemeinsam zusammen, sie zu füllen.
Ihre schulheft Redaktion
PS.: Im Jänner 2024 wurde von Bildungsminister Polaschek angekündigt, dass die Lehrer:innenausbildung von 12 auf 10 Semester verkürzt würde, um durch die Reduktion der Studienzeit dem Lehrer:innenmangel zu begegnen. Weil die Abfassung der Artikel für dieses vor der Bekanntgabe dieser Maßnahme geschah, bitten wir die Leser:innen, in jenen Artikeln, die sich auf die Lehrer:innenbildung beziehen, diese Veränderung mitzudenken, aber auch die Konsequenzen dieser Verordnung zu überlegen.
[1] Alle diese Ausgaben der schulhefte sind über die Webseite als pdf kostenlos zu erhalten: www.schulheft.at
[2] Umfassende Informationen zu den Lehrplänen sind auf der Webseite www.paedagogikpaket.at übersichtlich präsentiert.
Autor:innen dieser Ausgabe
Herausgeber:innen dieser Ausgabe
Gert Hasenhütl
Hannes Lhotka
Josef Seiter
Marion Starzacher
Cornelia Zobl
Christina Adorjan ist Chemikerin, Wissenschaftsvermittlerin,Vortragende, Lehrperson, Autorin (https://www.schubu.at/; https://loern.at/; https://bit.ly/Holzexperimente), leitet den Verein Technologykids (https://www.technologykids.at/) sowie das Clusterzentrum Tulln des edu-MakerSpaces NÖ (https://makerspaces.ph-noe.ac.at/).
Marc de Vries ist Professor für Wissenschafts- und Technologiepädagogik und für christliche Technologiephilosophie an der TU Delft, Niederlande, seit 1999 Chefredakteur des „International Journal of Technology and Design Education“ (SpringerNature Publishers), Herausgeber der Buchreihe „International Studies in Technology Education“ (Brill Publishers). Er ist Koordinator der internationalen Konferenzreihe „Pupils‘ Attitudes Towards Technology“, deren 40. Konferenz in Liverpool 2023 stattfand. Publikationen u.a.: Geschichte der Philips-Forschung (Amsterdam University Press); Teaching About Technology (eine Einführung in die Technologiephilosophie für Technologiepädagogen). m.j.devries@tudelft.nl
Dorothea Erharter ist Gründerin und Geschäftsführerin des ZIMD – Zentrum für Interaktion, Medien & soziale Diversität. Sie konzipiert und leitet technologische Forschungs- und Technologievermittlungsprojekte mit Fokus auf Partizipation, Chancengerechtigkeit und Gender-Aspekte. Das ZIMD begeistert seit 2007 Mädchen für Technik und Programmieren durch den Bau von Robotern, führt friedenspädagogische Workshops durch, hat zwei pädagogische Roboter entwickelt und forscht im Bereich Partizipation und Gruppenentscheidungen. Erharter ist auch Mediatorin, Klärungshelferin und moderiert Entscheidungsprozesse. https://www.zimd.at/, d.e@zimd.at
Timo Finkbeiner ist Professor am Institut für Ausbildung an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems. Schwerpunkte seiner Lehre und Forschung liegen in den Bereichen der Inklusiven Pädagogik und der frühen technischen Bildung mit Fokus auf Fragen der Didaktik sowie der Lehrer:innenbildung. timo.finkbeiner@kphvie.ac.at
Camilo Ayala García ist Assistenzprofessor am Design Department der Universidad de los Andes Bogotá, Colombia. Er forscht und lehrt auch an der Fakultät für Design und Künste der Freien Universität Bozen und am interuniversitären „Materials Experience Lab“ der TU Delft und des Politecnico di Milano. Er studierte „Industrial und Textile Design“ an der Universidad de los Andes, Produkt Design an der Domus Academy, Mailand, und promovierte zu den Themen „Materials and Design“, „Evolution of Materials“, „Self-Production of Materials“ am Politecnico di Milano. https://materialsexperiencelab.com/
Karin Gollowitsch unterrichtet an der Pädagogischen Hochschule Steiermark im Fach „Technik und Design“ in der Aus-, Fort- und Weiterbildung, vorrangig im Bereich der Sekundar-, aber auch in der Primarstufe. Ihr fachlicher Schwerpunkt liegt in der Vermittlung von Grundlagen in der Fachdidaktik und in der Kreativitätsförderung. karin.gollowitsch@phst.at
Dominik Gumpenberger ist Lehrer am WRG Salzburg, Lektor an der Universität Mozarteum Salzburg im Fachbereich Gestaltung: Technik, Textil.
Ingrid Hackl ist Senior Artist an der Kunstuniversität Linz in der Lehramtsausbildung für das Unterrichtsfach „Technik und Design“, ist Mitglied der Fachgruppe für Gestaltung: Technik.Textil im Cluster Mitte, hat an der Entwicklung des Curriculums mitgewirkt und stand/steht im Austausch mit Expert:innen anderer Universitäten, sowie in OÖ mit der Bildungsdirektion, den Pädagogischen Hochschulen und den ARGE-Leiter:innen. Sie konzipiert und organisiert Fort- und Weiterbildungsaktivitäten für Werkpädagog:innen. Ihre künstlerisch-wissenschaftliche Forschungstätigkeit und Praxis liegt im Bereich Bildung für Nachhaltige Entwicklung in Verbindung mit Designpädagogik. https://kunstuni-linz.at/BA-Gestaltung-Technik-Textil.13349.0.html, ingrid.hackl@kunstuni-linz.at
Gert Hasenhütl ist Lehrender und Forschender in den Bereichen Design und Technik, Vertragslektor am Institut für das künstlerische Lehramt an der Akademie der bildenden Künste Wien, Lektor an der Universität für angewandte Kunst Wien und Professor für „Technik und Design“ an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems.
g.hasenhuetl@akbild.ac.at, gert.hasenhuetl@kphvie.ac.at
Georg Jaroschka. Nach dem Diplomstudium an der Akademie der bildenden Künste in Wien und zehn Jahren Tätigkeit als Computeranimator Umstieg in die Lehrämter BE und WE an der Universität für Gestaltung Linz, seit fünfzehn Jahren im Schuldienst quer durchs Land. In beiden Lebensabschnitten Entwickler quelloffener Software und Botschafter für amerikanische Didaktik. Lernt von seiner Tochter alles neu.
Monika Holzer-Kernbichler ist Kunsthistorikerin, Kunstvermittlerin und Bildungskuratorin. Sie arbeitet als Lektorin an verschiedenen Universitäten und leitet die Kunstvermittlung am Kunsthaus Graz und der Neuen Galerie Graz. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Kunstgeschichte ab 1800 bis zur Gegenwart, der Kunsttheorie, den Kulturwissenschaften und der Theorie der Vermittlung. monika.holzer-kernbichler@museum-joanneum.at
Johannes Lhotka ist Mitbegründer des „Fördervereins Technische Bildung“. In seiner langjährigen Tätigkeit als Lehrer für Werken an der AHS und als Aus- und Fortbildner an Pädagogischen Akademien war und ist es ihm immer ein Anliegen, für die gebührende Anerkennung der Unverzichtbarkeit des Faches „Technik und Design“ im Fächerkanon zu kämpfen. Einer der Schwerpunkte seines Wirkens war der Einsatz des Computers im Werkunterricht bereits zu Beginn der Personalcomputer-Ära im vorigen Jahrhundert.
Elisabeth Lehner ist digitale Kunst- und Kulturvermittlerin, Vortragende, Lehrperson und Projektmanagerin. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt an der Schnittstelle von digitaler Kunst und Bildung. www.elisabeth-lehner.space
Stefano Parisi ist Postdoktorand an der Fakultät für Industrial Design Engineering im Department of Sustainable Design Engineering der TU Delft,. Er forscht und lehrt zu „Materials Experience“ und „Material-Driven Design“. Seine zahlreichen Publikationen beschäftigen sich u.a. mit „Bio-Fabricated Organic Materials“, „CMF“ (Color, Material and Finishes), „Hybrid Material Systems“ oder Textilien. https://materialsexperiencelab.com/
Barbara Pollini ist Lektorin, Designerin und Materialforscherin in den Bereichen „Sustainable Design“ und Biodesign. Sie studierte Ecodesign und Ecoinnovation an der Universität Camerino, Italien, und promovierte zum Thema Design am Politecnico di Milano. Sie ist Mitbegründerin von „Nuup – Sustainable Creativity“, einem Netzwerk zur Entwicklung nachhaltiger Umweltprojekte. Ihre Forschungsthemen umfassen DIY-Materialien, Biodesign, „Design Fiction“, „Life Cycle Design“ oder „Circular Design“. https://www.nuup.it/
Valentina Rognoli ist a.o. Professorin an der Fakultät für Design am Politecnico di Milano. Für ihr Doktorat erforschte sie sensorisch-expressive Dimensionen von Designmaterialien. Sie ist die Mitbegründerin und Co-Vorsitzende des „Materials Experience Lab“ der TU Delft und des Politecnico di Milano. Sie forscht und lehrt in den Bereichen „CMF“ (colour, material and finishing), DIY-Materialien, „Materials Interactions“, „MDD“ (Materials Driven Design), „Regenerative Design Materials for Transition“, „Repairing and Imperfection“ und Tinkering. Sie gilt als Pionierin in diesen Bereichen für Design, Materialien und Technologie. https://materialsexperiencelab.com/
Josef Seiter, Professor i. R. der Pädagogischen Hochschule Wien, ehemaliger Koordinator des „Thematischen IMST-Netzwerks Technisches Werken“, Mitbegründer des „Fördervereins Technische Bildung“, Mitherausgeber der „schulhefte“, Kulturhistoriker, Verfasser diverser Publikationen zu pädagogischen, kultur- und kunsthistorischen Themen. www.technischebildung.at
office@technischebildung.at
René Stangl unterrichtet an der Pädagogischen Hochschule Steiermark im Fach „Technisches und Textiles Gestalten“ bzw. „Technik und Design“ im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung für die Sekundarstufe. Seine Lehrtätigkeit umfasst Grundlagenveranstaltungen in der Ausbildung u.a. in der Erfahrungswerkstätte, der Fachdidaktik Technik, Raum 1, dem Praxisnetzwerk Fachdidaktik. rene.stangl@phst.at
Marion Starzacher ist Architektin, Kreativpädagogin und Hochschulprofessorin für „Technik und Design“ an der Pädagogischen Hochschule Steiermark. Ihr Forschungsfokus liegt in der Entwicklung von Lern- und Lehrumgebungen im STEAM-Field. Sie befasst sich mit forschendem und entdeckendem Lernen sowie mit Kreativitätsprozessen. In der Architektur und baukulturellen Bildung liegt ihr Fokus im Raum und der Raumwahrnehmung sowie einer daraus resultierenden Didaktik in der Vermittlung. Gemeinsam mit Ingrid Krumphals leitet sie seit 2022 das Zentrum für fachdidaktische Forschung in der naturwissenschaftlich-technischen Bildung (NATech) der PH Steiermark. marion.starzacher@phst.at
Martina Taranto ist Designerin, Künstlerin und Forschende. Sie absolvierte ihren Master am Royal College of Art in London. Sie kombiniert „Critical Design“ Methoden, Designethik mit Materialforschung. Ihre Forschungsschwerpunkte im Bereich des ganzheitlichen Design-Ansatzes sind DIY Materialien, Nachhaltigkeit und Biodesign. https://martinataranto.com/
Cornelia Zobl ist Professorin im Fachbereich „Technisches Werken“ bzw. „Technik und Design“ an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems. Ihr Forschungsinteresse gilt der bildungswissenschaftlichen Perspektive auf gesellschaftliche Transformationsprozesse durch Technologisierung und Digitalisierung und deren Konsequenzen für den schulischen Unterricht. cornelia.zobl@kphvie.ac.at
Bestellen
Studienverlag: Schulheft 192
Sprach-ver-handeln
Klappentext
Sprache braucht man, um sich ausdrücken zu können, um zu sagen, was man möchte und, ja, zum Zusammenleben.
Jede Begegnung kommunizierender Menschen ist zugleich eine Aushandlung von Sprache(n) und Sprachgebrauch: zwischen Schule und Kindergarten, Familie und Gesellschaft, Vergangenheit und Zukunft. Manchmal ist das interessant, manchmal anstrengend, oft ganz schön komplex. Autor*innen aus mehreren europäischen Ländern gehen in diesem schulheft der Frage nach den „richtigen“ Sprachen nach.
Inhalt
Judith Purkarthofer
Sprach-ver-handeln – eine Einleitung und Aushandlung
Petra Kastner-Pfisterer
Hinter der Sprache ist ein Ozean
Kindorientierte Sprachförderung und Wahrnehmungsschulung im Kindergarten
Teil 1: Aus der Praxis einer Sprachpädagogin
Teil 2: Besonders nützliche Hilfsmittel
Teil 3: Meine eigene Position, meine Haltung und Arbeitsweise
Gentiane Abazi
Nur ein Teelöffel
Johanne Ilje-Lien
Austausch statt Unterricht
Die Verletzlichkeit von Pädagog:innen in der Begegnung mit dem schweigenden Anderen
Emel Hajo
‚In der Schule wird Deutsch gesprochen‘
Anja Maria Pesch
Semiotische Landschaften als Orte des Sprach-ver-handelns
Mentor Deliji
Die Vase
Brigitta Busch, Mi-Cha Flubacher und Nataša Ottowitz
Für eine Kultur der Mehrsprachigkeit: Sprachverhandeln und Wiederaneignung im Minderheitenkontext
Das Beispiel des Slowenischen Gymnasiums
Rojda Coskun
Ich heiße Rojda
Miriam Weidl und Elizabeth J. Erling
Kultursensible Bildung, Mehrsprachigkeit und Englischlernen
Einblicke in einen Udele-Workshop an der Universität Wien
Janet Tagay
Der erste Schulalltag
Johanna Tausch und Wintai Tsehaye
Mehrsprachigkeit als Ressource
Ein Einblick in mehrsprachiges Sprachverhalten im Alltag
Judith Purkarthofer, Sofia Grigoriadou und Rosemarie Tracy
Von der Forschung in die Schule in die Familie
Elisabeth Barakos
Rezension: Deutschpflicht auf dem Schulhof?
Warum wir Mehrsprachigkeit brauchen
Petra Neuhold
Wie Mehrsprachigkeit ins schulheft kommt
Ein Blick ins Archiv
Autor:innen dieser Ausgabe
Editorial
Judith Purkarthofer
Sprach-ver-handeln –
eine Einleitung und Aushandlung
Sprache braucht man, um sich ausdrücken zu können, um zu sagen, was man möchte und, ja, zum Zusammenleben.
Jede Begegnung kommunizierender Menschen ist bereits eine Verhandlung von Sprache(n) und sprachlicher Praxis. In jedem Fall müssen wir uns ad hoc darüber verständigen, welche (sprachlichen) Ressourcen vorliegen und welche nicht. Diese Aushandlung zwischen den Möglichkeiten, die alle Beteiligten haben, zu sprechen und zu verstehen, und den Wegen, die uns in der Kommunikation offen stehen, findet dann statt, wenn Verständigung das Ziel ist, und sie gilt für Situationen der Einsprachigkeit ebenso wie auch für solche Situationen der Mehrsprachigkeit. Kommunikation läuft anders ab, wenn sie neben einem fahrenden Güterzug stattfinden muss oder wenn das schlafende Kleinkind dabei nicht geweckt werden soll. Und für die Kommunikation mit Kleinkindern, die weiterschlafen sollen, gibt es sowieso eigene Register… Bei neuen Begegnungen müssen wir oft erst einmal herausfinden, welche Sprachen und Sprachformen wir gemeinsam haben: Laut- oder Gebärdensprachen, Deutsch oder Englisch, formal oder ungezwungen und alle Kombinationen davon. Aber auch in Beziehungen mit Menschen, die uns vertraut sind, kommunizieren wir permanent auch über das Sprechen und Hören, Schweigen und Reden – unabhängig von den Sprachen, in denen dies geschieht. Im Rahmen von familiären oder freundschaftlichen Verbindungen nehmen wir diese Multi-Modalität in Kauf, ja genießen vielleicht sogar das Einander-Entdecken, das mit dem Erforschen des Neuen einhergeht (Purkarthofer & Plutzar 2022).
Sprache ist eine Schlüsselkompetenz, ist ein essenzielles Mittel der Kommunikation und sollte Menschen verbinden.
Im Rahmen der Aushandlung erlernen wir auch neue sprachliche Ressourcen: innerhalb der Familie, in der wir aufwachsen, ebenso wie in Kindergärten und Schulen – und später in der Berufsausbildung und an den Universitäten. Zugang zu Sprachen ermöglicht uns Teilhabe am Spiel, an Diskussionen und als Schlüsselkompetenz oft auch formalen Zugang zu Bildungsangeboten und konkreten Leistungen. Damit wirkt Sprache ermächtigend, aber als Zugangshürde auch exkludierend: Wer nicht über bestimmte Noten verfügt, darf nicht in eine bestimmte weiterführende Schule. Wer nicht bestimmte Kompetenzen nachweisen kann, darf nicht einreisen oder ein Prozedere zur Erlangung gewisser Aufenthaltstitel starten.
Sprache ist ein Kommunikationsmittel, das man erlernt und das die Wirklichkeit darstellt, aber auch formt.
Sprachen sind niemals statisch und selbst relativ fixe Konstrukte wie Standardsprachen, deren Formen in Wörterbüchern und Grammatiken festgelegt sind, verändern sich über die Zeit. Diese Veränderung folgt bestimmten Regeln, aber sie geschieht nicht unabhängig von Sprecher:innen, die diese Sprachen und Sprachformen nutzen. Während sich Verschiebungen beständig durch Vorlieben von Sprechenden, durch Migration in neue Sprachräume, durch Einflüsse aus anderen Sprachen und durch neue Entwicklungen ergeben, gibt es auch aktive und bewusste Beiträge zum Diskurs. In Österreich ist das Netzwerk SprachenRechte seit mittlerweile 20 Jahren damit befasst, Bedingungen von Sprachgebrauch und Spachenlernen für alle zu verbessern1. In der Debatte des Rats für Migration geht es im Jahr 2023 um die Frage, ob Deutsch die (einzige) Sprache der Verständigung sein muss2. Daneben werden Diskussionen über geschlechtergerechten Sprachgebrauch kontinuierlich weitergeführt. Gemeinsam ist den Diskussionen, dass Sprachen als Ausdruck des Sozialen, aber auch als Beitrag zu dessen Gestaltung zu sehen sind: Sprache stellt Wirklichkeit dar, aber formt sie auch.
Sprache ist ein Mittel zur schriftlichen und mündlichen Kommunikation und kennt viele verschiedene Varianten.
Sprachliche Verständigung ist auch dort gefragt, wo Autor:innen aus verschiedenen fachlichen Traditionen, mit unterschiedlichen Erfahrungen und nicht zuletzt unterschiedlichen Verkehrssprachen gemeinsam arbeiten (möchten). Alle Autor:innen in diesem Band leben und schreiben in zumindest zwei, eher mehr Sprachen – darunter auch verschiedene Varianten des Deutschen. An einem ganz konkreten Beispiel möchte ich das illustrieren: Der Bereich der Elementarbildung, der Kindergärten, stellt einen ersten Schwerpunkt in diesem schulheft dar. Nicht zuletzt, weil der Rolle der Sprach-ver-handlung im vorschulischen Bereich (endlich) mehr Aufmerksamkeit zukommt. Die Autorinnen dieser drei Beiträge kommen aus Österreich, aus Deutschland und aus Norwegen und ihre Texte sind so geprägt von unterschiedlichen Bildungstraditionen, fachlichen Diskursen und den Möglichkeiten der verwendeten Sprachen. Im Zuge der Übersetzung, des Lektorierens und Veränderns hat sich herausgestellt, dass die Personen, die in Einrichtungen der Elementarpädagogik tätig sind, jeweils unterschiedlich bezeichnet werden. In Norwegen sind diese barnehagelærer, also Kindergartenlehrer:innen, während in Österreich der Begriff der Kindergärtner:innen die Berufsbezeichnung darstellt. In Deutschland hingegen wird der Begriff der Kindergärtner:in eher abwertend verstanden (wohl analog zur österreichischen Kindergartentante) und diejenigen, die über eine entsprechende Fachausbildung verfügen, bezeichnen sich als Erzieher:innen. Erzieher:in klingt nun wieder zumindest für meine in Österreich sozialisierten Ohren eher nach ältlichem Hausunterricht.
Sprache ist ein Zeichensystem, welches Laute und Schriftzeichen miteinander verbindet. Daraus entstehen Wörter und Sätze, die uns die Kommunikation ermöglichen.
In der Übersetzungsleistung von Konzepten schwingen also immer auch Nuancen mit, die mit Blick auf die Leser:innen zu interpretieren sind. Gleichzeitig klingen natürlich die Erfahrungen der Autor:innen, ihr Spracherleben und ihre Lebensumstände durch. In diesem Heft wird diesen Erfahrungen ein spezieller Raum geöffnet: Studierende der Universität Duisburg-Essen, die sich auf ihre Tätigkeit als zukünftige Lehrende in der Sekundarstufe vorbereiten, haben im Rahmen eines Seminars angeleitet über Sprachen nachgedacht. Die kursiven Zwischenüberschriften dieses einleitenden Beitrags stammen aus dem Seminar, und im Lauf des Semesters haben die Studierenden eigene Spracherlebnisse verfasst, von denen fünf in diesem Heft vertreten sind. Die kurzen Texte sind literarisierte Erinnerungen aus der eigenen Biographie, oft in der Stimme des Kindes von damals verfasst, um in Kleingruppen die Bedeutung von sprachlichen Handlungen und der Aushandlung von Sprachen zu analysieren. Aufbauend auf das Konzept der Erinnerungsarbeit von Frigga Haug (1999) werden aus diesen gesammelten, individuellen Erlebnissen gesellschaftliche Macht und diskursive Ressourcen bzw. deren Mangel deutlich. Im Dialog mit den anderen Texten in diesem Band schaffen sie es hoffentlich, die verschiedenen Stimmen und Perspektiven herauszustellen, die sich stets im Sinne der Aushandlung begegnen. Die Wahl der Themen war auf den Kontext Bildung beschränkt, aber es ist kein Zufall, dass vor allem Situationen in Erinnerung bleiben, in denen sprechende Subjekte sich in Frage gestellt fühlen oder in denen sie Unsicherheit erleben (Busch 2012). Für die Studierenden ergeben sich aus dem Nachdenken über eigene Erfahrungen Möglichkeiten, diese produktiv für den schulischen Alltag einzusetzen, aber auch Kontinuitäten zu erkennen, in denen sie sich nach wie vor bewegen (müssen). Der Anteil von Studierenden, die selbst mehrsprachig aufgewachsen sind, ist an der Universität Duisburg-Essen traditionell hoch – eine Chance für die Mehrsprachigkeitsforschung und jedenfalls auch für die Schüler:innen und Schüler, denen unsere Absolvent:innen begegnen werden.
Sprache ist ein Kommunikationsmittel zwischen verschiedenen Menschengruppen, da es ja viele verschiedene Sprachen gibt. Und durch die Aneignung mehrerer Sprachen hat man natürlich auch die Möglichkeit, mit einer viel größeren Menschengruppe zu kommunizieren.
Das Herausgeben eines schulheft ist nun selbst natürlich eine Aushandlung im sprachlichen Sinn und entlang von biographischen, professionellen und zufälligen Begegnungen versammeln sich hier Beiträge und Beiträger:innen, die unterschiedliche Felder abdecken. Alle befassen sich in gewisser Weise damit, wie und wo Sprachen verhandelt werden bzw. mit Sprachen gehandelt wird. Dabei wechseln sich autobiographische Texte, die sogenannten Spracherlebnisse, mit Texten ab, die spezifische Bildungsinstitutionen in den Blick nehmen. Daraus ergibt sich eine annähernde Dreiteilung des Heftes, die vom Kindergarten über die Schule bis zu Erwachsenen führt.
Beginnend mit Sprachförderung im Kindergarten beschreibt Petra Kastner-Pfisterer in einem detaillierten Beitrag die Möglichkeiten, Strategien und besonderen Hilfsmittel, mit denen sie Kindern Deutsch aber auch sprachliche Praktiken im weiteren Sinne näherbringt. Gentiane Abazi erinnert sich an ein besonders einschneidendes Erlebnis ihrer Schulzeit, als ihr die Grenzen der sprachlichen Möglichkeiten bewusst wurden. Johanne Ilje-Lien arbeitet in der Ausbildung von Kindergärntner:innen in Oslo und in ihrem Beitrag richtet sie ihren Blick auf Kinder, deren Kommunikationsversuche aufgrund mangelnder Ressourcen in der Mehrheitssprache nicht wahrgenommen werden. Emel Hajo schließt mit einem Spracherlebnis an, das sich zu Machtdemonstrationen im Zusammenhang mit ‚falschen‘ Sprachen äußert. Anja Maria Pesch, deren Forschung in Deutschland und Norwegen angesiedelt ist, schreibt dann über die mehrsprachige Gestaltung von Kindergärten und die Botschaften, die durch diese semiotischen Landschaften an Kinder und Eltern gerichtet werden. Damit schauen die Kolleginnen aus Österreich, Deutschland und Norwegen sehr genau darauf, wie die Kinder in der Sprache dieser oft einsprachigen Institutionen ankommen und welche Herausforderungen das für junge Kinder bereithält.
In der Folge stehen Schüler:innen im Mittelpunkt, die im Rahmen von Workshops aus ihrem mehrsprachigen Alltag berichten, aber auch durch die Auseinandersetzung mit metasprachlicher Reflexion angeregt werden, sich als mehrsprachige Sprecher:innen in ihren Lebenswelten zu bewegen. Mentor Deliji lässt uns an seinem Spracherlebnis teilhaben, das sehr deutlich die Verflechtungen von Sprache und Bewertung herausbringt. Brigitta Busch, Mi-Cha Flubacher und Nataša Ottowitz sprachen mit Schüler:innen der 1. und 7. Klassen des Slowenischen Gymnasiums in Klagenfurt/Celovec und diskutierten ihre sprachlichen und sozialen Erlebnisse. Rojda Coskun berichtet von ihrem eigenen Schulwechsel in die weiterführende Schule und dem Fokus, der dabei unerwartet gesetzt wurde. Miriam Weidl und Elizabeth J. Erling arbeiteten, im Rahmen eines Projekts an der Universität Wien, mit Schüler:innen einer Wiener Mittelschule. Passend dazu erinnert sich Janet Tagay in ihrem Text an den Moment des Ankommens in einer neuen Klasse – diesmal als angehende Lehrerin.
Den letzten Teil des Heftes beginnen mit Johanna Tausch und Wintai Tsehaye zwei Forscherinnen, die sich mit den Repertoires von Sprechenden von Herkunftssprachen beschäftigt: wie verändern sich ausgewählte Sprachen (Griechisch, Türkisch und Russisch), wenn sie vor allem in einem deutsch- oder englischsprachigen Umfeld gesprochen werden. Die Beobachtungen aus diesen Situationen erlauben uns wiederum Rückschlüsse auf Sprachveränderung, aber auch die Normalität mehrsprachiger Formen, wie sie in Schulen und Universitäten anzutreffen sind. Judith Purkarthofer beschreibt gemeinsam mit Sofia Grigoriadou und Rosemarie Tracy in einem kurzen Beitrag das Transferprojekt aus derselben Forschungsgruppe, das für Lehrende und Eltern mehrsprachige Materialien bereitstellt. Diese Videos, Audios und Texte können in Elternabenden, im Unterricht und in der Familie verwendet werden, um Familiensprachen und Sprachaushandlung zu stärken. In diesem Sinn hat auch Elisabeth Barakos, selbst an der Universität Hamburg tätig, das Buch ‘Deutschpflicht auf dem Schulhof’ gelesen und für uns rezensiert. Und abschließend hat Petra Neuhold, Mitglied der schulheft -Redaktion, für uns einen Blick in das Archiv geworfen und sich auf die Suche nach Sprachen und Mehrsprachigkeit im schulheft gemacht. Weiterlesen und Weitersprechen ist eindeutig empfohlen!
Literatur
Busch, Brigitta (2012). Das sprachliche Repertoire oder Niemand ist einsprachig. Klagenfurt: Drava.
Purkarthofer, Judith & Verena Plutzar (2022). Unsere Sprachen sind wie unsere Beziehungen, man muss sie pflegen. In: Oliver Gruber & Michael Tölle (Hrsg.) (2022). Fokus Mehrsprachigkeit. Wien: ÖGB-Verlag.
Haug, Frigga (1999). Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument.
Anmerkung zu den Abbildungen: Die im Text abgedruckten Abbildungen sind in ihrer vielfarbigen Variante auf der Website des zu finden.
1 https://www.sprachenrechte.at
2 https://rat-fuer-migration.de/2023/07/03/sprachen-nach-bedarf-statt-deutsch-nach-vorschrift-ein-plaedoyer-fuer-einen-pragmatischen-umgang-mit-mehrsprachigkeit/
Autor:innen dieser Ausgabe
Herausgeberin dieser Ausgabe
Judith Purkarthofer
Gentiane Abazi ist 25 Jahre alt und studiert im Masterstudium die Fächer Deutsch und Englisch für das Lehramt an Haupt-, Real- und Gesamtschulen.
Elisabeth Barakos forscht zu Mehrsprachigkeit im Kontext von Bildung und Arbeit, Elite Multilingualism, Sprachenpolitik, Minderheitensprachen sowie Kritische Diskursanalyse und Ethnographie. Sie lehrt aktuell an den Universitäten Hamburg und Wien. Orcid: 0000-0003-0231-4372
Brigitta Busch forscht und lehrt am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien und an der Universität Stellenbosch (Südafrika). 2009 wurde ihr an der Universität Wien eine Berta-Karlik-Professur zur Förderung exzellenter Wissenschafterinnen verliehen, die sie bis 2015 innehatte. Für den Europarat war sie als Expertin im Bereich vertrauensbildender Maßnahmen in Ost- und Südosteuropa tätig, später wurde sie von Österreich für den Beratenden Ausschuss des Europäischen Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten nominiert, dessen Vizepräsidentin sie bis 2018 war.
Rojda Coskun ist 27 Jahre alt und hat kurdische Wurzeln. Als angehende Lehrerin unterrichtet sie die Fächer Deutsch, Philosophie und Geschichte.
Mentor Deliji ist Lehramtsstudent mit der Fächerkombination Deutsch und Wirtschaftswissenschaften im Masterstudium.
Elizabeth J. Erling ist Principal Investigator des Udele-Projekts und Elise-Richter Senior Postdoctoral Fellow an der Universität Wien. Sie ist außerdem Professorin für Englisch Fachdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich. Sie hat als Bildungsforscherin und Lehrer:innenausbilderin an Projekten in Großbritannien, Deutschland, Bangladesch, Indien und Ghana mitgearbeitet. Zurzeit liegt der Schwerpunkt ihrer Forschung auf Bildungsgleichheit im Sprachenunterricht und dem Potenzial von Mehrsprachigkeit als Ressource für den Englischunterricht in österreichischen Mittelschulen.
Mi-Cha Flubacher ist Soziolinguistin mit ethnographischer Ausrichtung. Sie forscht, lehrt und publiziert zu Mehrsprachigkeit, Integrationssprachpolitik und Sprache und Arbeit – zuletzt am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien und seit Neustem am Department für Angewandte Sprachwissenschaft, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Sofia Grigoriadou ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Transferprojekt „Familien und ihre sprachlichen Dynamiken – Sprecher:innen von Mehrheits- und Herkunftssprachen stärken“ an der Universität Duisburg-Essen. Sie promoviert zum herkunftssprachlichen Unterricht und untersucht dabei sprachenpolitische Hintergründe.
Emel Hajo ist 30 Jahre alt und absolviert den Studiengang Master des Lehramts für Haupt-, Real- und Gesamtschulen mit den Fächern Deutsch und Sozialwissenschaften.
Johanne Ilje-Lien arbeitet in der Ausbildung von Elementarpädagog:innen an der OsloMet Universität und beschäftigt sich mit Mehrsprachigkeit als Ressource in der universitären Bildung. Im Moment forscht sie daran, wie sie als Pädagog:innenbildnerin in der Vermittlung fachlichen Wissens mehrere Sprachen und Ausdrucksformen nutzen kann.
Petra Kastner-Pfisterer studierte Romanistik, Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien und war anschließend Teil der Forschungsgruppe Spracherleben am Institut für Sprachwissenschaft bei Dr. Brigitta Busch. Als Sozialpädagogin arbeitete sie mit Kindern, Jugendlichen und suchterfahrenen Erwachsenen. Seit vier Jahren ist sie Sprachpädagogin in den städtischen Kindergärten einer oberösterreichischen Stadt. Ihr langjähriges Interesse gilt der zwischenmenschlichen Kommunikation und dem „Sich-Verstanden-Fühlen“ auf allen Ebenen.
Petra Neuhold ist -Redakteurin und Hochschullehrende an der Pädagogischen Hochschule Wien. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Mehrsprachigkeit, Rassismuskritik und soziale Ungleichheit.
Nataša Ottowitz ist akademische Bibliotheks- und Informationsexpertin an der Universitätsbibliothek Klagenfurt. Davor studierte sie Sprachwissenschaft an der Universität Wien und Lehramt an der Pädagogischen Hochschule Kärnten und war als zweisprachige Lehrerin an einer Volksschule mit deutscher und slowenischer Unterrichtssprache tätig.
Anja Maria Pesch arbeitet im Bachelorstudiengang für Erzieher:innen in Kindertageseinrichtungen an der Norway Inland University of Applied Sciences in Hamar. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Mehrsprachigkeit im frühen Kindesalter. Zur Zeit arbeitet sie in einem Forschungsprojekt zu mehrsprachigen Familien und deren Erfahrungen im Übergang von Kindertageseinrichtung zur Grundschule.
Judith Purkarthofer, Juniorprofessorin an der Universität Duisburg-Essen, forscht zu mehrsprachigen Familien, Sprache in sozialen Räumen, Sprachbiographien und Sprachen im Zusammenhang mit traumatischem Erleben.
Janet Tagay ist 1998 in Deutschland geboren und kurdisch-jesidischer Abstammung. Sie studiert auf Lehramt mit den Fächern Germanistik und Sozialwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen.
Johanna Tausch hat 2021 ihren MA Sprache und Kommunikation abgeschlossen und promoviert aktuell am Leibniz-Institut für deutsche Sprache Mannheim. Sie ist seit ca. 15 Jahren ehrenamtlich im Turnverein als Trainerin im Kleinkind- bzw. Kinderturnen tätig und hat dort auch viel mit Kindern zu tun, die daheim und zum Teil mit anderen Kindern im Training eine andere Sprache als Deutsch sprechen.
Rosemarie Tracy ist Seniorprofessorin für Anglistische Linguistik an der Universität Mannheim. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit unterschiedlichen Spielarten des Spracherwerbs und Sprachkontaktphänomenen (z.B. Codeswitching) bei Kindern und Erwachsenen.
Wintai Tsehaye ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Anglistische Linguistik der Universität Mannheim. Sie forscht seit Mai 2018 innerhalb der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forscher:innengruppe RUEG (Research Unit Emerging Grammars in Language Contact Situations) zur Entwicklung des Deutschen als Herkunftssprache in den USA. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Sprachkontaktforschung, Mehrsprachigkeitsforschung und Korpuslinguistik, mit besonderem Augenmerk auf Registervariation im Bereich von Syntax und Morphologie.
Miriam Weidl ist Postdoc im Udele-Projekt an der Universität Wien und Dozentin für Mehrsprachigkeit. Zuvor arbeitete sie als Postdoc an der Universität Helsinki und ist Mitbegründerin des Vereins LILIEMA zur Förderung sprachunabhängiger Schriftlichkeit sowie einer inklusiven Bildung für alle. Forschungsschwerpunkt sind mehrsprachige Repertoires und Sprachverwendung in unterschiedlichen Kontexten. Durch ihre Arbeit in Westafrika und Europa hat sie Expertise in der Förderung von mehrsprachigem Sprachbewusstsein und Emanzipation.
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Studienverlag: Schulheft 191
Freizeitpädagogik
Stiefkind der Bildungspolitik
Klappentext
Mit dem Ausbau ganztägiger Schulformen hat Freizeitpädagogik Eingang ins Bildungssystem gefunden und fristet in diesem eine wiewohl wichtige, so doch relativ randständige Existenz.
Dieses schulheft beschäftigt sich mit Grenzen und Potentialen von Freizeitpädagogik in der offenen Kinder- und Jugendarbeit und im Schulbetrieb, setzt sich kritisch mit dem von Regierungsseite geplanten und mit heftigen Protesten der Freizeitpädagog:innen konfrontierten Gesetzesentwurf zur Assistenzpädagogik auseinander und beleuchtet exemplarisch freizeitpädagogische Handlungsfelder.
Inhalt
Editorial
Grundsätzliches
Susi Schrott
Freizeitpädagogik und offene Kinder- und Jugendarbeit
Ein kritischer Rückblick, Einblick und Ausblick
James Loparics
Zum Begriff der Freizeit und was ihre Pädagogik sein und leisten könnte
Olivia Fischer
Informelles Lernen als Chance
Wie die schulische Tagesbetreuung zu einer Lern-Revolution beitragen könnte
Rahmenbedingungen schulischer Freizeitpädagogik
Klaus Kindler
Unsystematische Überlegungen zu Aspekten der Freizeitpädagogik oder Fragmente
Elke Larcher
Hohes Potential in Ausbau und Qualität der Ganztagsschule
Verena Corazza, Henrike Kovačič, Gabi Lener
Schulische Freizeitpädagogik im institutionellen Korsett
Marta Rauter
Freizeitpädagogik und Bildung – eine untrennbare Verbundenheit
Freizeitpädagogische Handlungsfelder
Maria Lodjn
Nicht nur Mathematik, Deutsch und Englisch!
Warum Freizeitpädagogik und Hobbylobby unverzichtbar sind
Julia Bösendorfer
Das Mittagessen in der Ganztagsschule und sein pädagogisches Potenzial
Sophie Österreicher
Nightingale
Wenn pädagogische Arbeit über die schulischen Grenzen hinausgeht
Gregor Ruttner-Vicht
Theaterpädagogische Methoden im Freizeitbereich
Autor:innen dieser Ausgabe
Editorial
Ein Schulheft zu Freizeitpädagogik - wozu?
Unsere Beschäftigung mit dem Thema „Freizeitpädagogik“ im Rahmen dieses Hefts begann schon im Herbst 2022 und entstand aus der Einschätzung, dass schulische Freizeitpädagogik eine Randexistenz1 führt, nur wenig theoretische und/oder pädagogische Auseinandersetzung damit stattfindet und sich kaum Berührungspunkte mit außerschulischer Kinder- und Jugendarbeit finden lassen – letztere vielmehr ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber schulischer Freizeitpädagogik signalisiert.
Im Sommer 2023, zum Zeitpunkt der Endredaktion des vorliegenden Heftes, ist Freizeitpädagogik plötzlich bildungspolitisch in aller Munde und dank dem massiven Widerstand schulischer Freizeitpädagog:innen gegen einen neuen Gesetzesentwurf, der ihre Degradierung zu Assistenzpädagog:innen vorsieht, auch in den Medien. Durch die solidarische politische Kooperation von Akteur:innen aus verschiedenen Bildungsbereichen in Aktionsplattformen wie schule:brennt (https://www.schulebrennt.at/), an denen sich auch die Freizeitpädagog:innen beteiligen, besteht derzeit (vage) Hoffnung auf eine durchsetzungskräftige soziale Bewegung, die längst zu verändernde Probleme und Baustellen im Bildungsbereich kritisch anspricht und Transformationsdruck aufbaut.
Was ist mit Freizeit gemeint? In einem kapitalistischen Re/Produktionszusammenhang wird Freizeit wie alle anderen Lebensbereiche Marktlogiken unterworfen und dient entweder der Reproduktion der Arbeitskraft und/oder bespielt unterschiedliche Teilmärkte, die freizeitpädagogische Angebote an die Kund:innen bringen. Mensch denke an den Wellnessboom, den Fitnesshype, den Markt für Erlebnisgeschenke oder den nach Corona wieder eröffneten Tourismusmarkt. Sich mit diesen Märkten auseinanderzusetzen, wäre Auftrag einer kritischen Konsument:innenerziehung. Verkauft werden Waren und Dienstleitungen am Freizeitmarkt nicht zuletzt mit der umfassend propagierten und von zunehmend mehr Arbeitskräften als dringend notwendig empfundenen „Work-Life-Balance“. Diese lässt jedoch völlig außer Acht, dass es vielmehr um einen Kampf gegen Entfremdung am Arbeitsplatz ginge, um Selbstbestimmung und Teilhabe, um kollektive Produktionsformen und gemeinsame Entscheidungen darüber, was und wie überhaupt produziert wird. Ein Konsumfeld freizeitlicher Waren und Dienstleistungen kann und darf nicht über fortschreitende Entfremdung und verschärfte Arbeitsbedingungen im fortgeschrittenen Kapitalismus hinwegtrösten.
Uns geht es um Freizeit abseits dieser Märkte. Um selbstbestimmte Lebenszeit, die nicht mit Konsumation beschäftigt ist. Um Räume menschlichen Lebens, in denen sich das Individuum sowohl den Erfordernissen der entfremdeten Arbeit als auch dem Zweck der Reproduktion der eigenen Arbeitsfähigkeit entziehen kann und nicht mit Konsum die Zeit totschlägt bzw. die Märkte belebt. Um Zeit, die keinem Optimierungsdruck unterliegt. Um Zeit, die sich am ehesten mit „Muße“ umschreiben ließe. Um Möglichkeitsräume abseits des „Reichs der Notwendigkeit“, die den Ausblick auf ein „Reich der Freiheit“ zulassen, in denen es Potential zur freien Tätigkeit und Entwicklung gibt – und in denen sich im günstigen Fall die kritische Distanz gewinnen lässt, aus der heraus das bestehende Gesellschaftssystem kritisierbar wird (während im ungünstigen Fall der Wunsch nach Freiheit und Selbstverwirklichung zum neoliberalen Optimierungsimperativ führt). Es geht uns um Zeit und Raum, die weder direkt vom Kapital noch auf Umwegen durch staatliche Interessen usurpiert werden.
Nun kann von staatlichen oder staatsnahen Institutionen per se nicht erwartet werden, eine Öffnung solcher Raum- und Zeitfenster als primäres Ziel anzustreben. Vielmehr ist anzunehmen, dass sie sich mit der Herstellung von Hegemonien, in unserem Falle bei Kindern und Jugendlichen, beschäftigen. Wohl ermöglicht der staatliche Rahmen auch Freizeit und Muße, staatliches Interesse, so vorhanden, ist dabei jedoch in erster Linie auf die Ermöglichung von Reproduktion und den Erhalt des sozialen Friedens gerichtet, auf die Sozialisation konformer Staatsbürger:innen im neoliberalen Sinne, und nicht unbedingt auf eine menschliche Freiheit, die auf eine Systemtransformation hinauslaufen könnte. Trotzdem bieten die von uns betrachteten mit Freizeitpädagogik beschäftigten Institutionen unterschiedlich viele Raum- und Zeitpotentiale, um auch menschliche Freiheit zuzulassen und zu fördern.
Die offene Kinder- und Jugendarbeit bietet Kindern und Jugendlichen die Wahlfreiheit, an ihr teilzunehmen oder an ihr nicht teilzunehmen, und sie orientiert auch nicht von Vornherein auf ein festgelegtes Ziel. Dies unterscheidet sie maßgeblich nicht nur von schulischem Unterricht, sondern auch von schulischen Freizeitangeboten. Im Gegenteil versucht offene Kinder- und Jugendarbeit (im besten Fall), Kinder und Jugendliche bei der Entfaltung eigener Interessen und Fähigkeiten zu unterstützen und sanktioniert nicht, wenn sie abweichende persönliche Ziele verfolgen. Schulische Freizeitpädagogik bietet deutlich geringere Freiheitsgrade. Wohl wird ein ähnlicher Anspruch formuliert, er lässt sich jedoch im engen räumlich-zeitlichen Konzept ganztägiger Schulformen kaum umsetzen. Im Gegensatz zur offenen Kinder- und Jugendarbeit ist schulische Freizeitpädagogik immer mit Aufsichtspflicht verbunden, und wirkt schon von daher panoptisch2 – es ist immer klar, welches Kind wann an welchem Ort unter der Aufsicht welcher Person steht. In der „gelenkten“ Freizeit des Ganztagsschulbetriebs werden überdies Inhalte der Beschäftigung vorgegeben, in der „ungelenkten“ schulischen Freizeit3 kann das Kind sich selbst beschäftigen oder aus verschiedenen Angeboten wählen, unterliegt jedoch dennoch der Aufsicht. In der offenen Kinder- und Jugendarbeit bestehen diese panoptischen Überwachungs- und Kontrollmechanismen nicht; die Teilnahme der Kinder und Jugendlichen ist freiwillig und Aufsichtspflicht besteht keine. Trotz dieser Einschränkungen beinhaltet auch schulische Freizeitpädagogik das Potential, schulische Angebote aufzuwerten und auszuweiten: Freizeitpädagog:innen in Schulen können für manche Kinder eine personelle Ressource sein, die ansonsten wenig Ansprache finden. Sie bringen Biographien in die Schule mit, welche sich häufig von denen der Lehrer:innen unterscheiden. Sehr oft bringen sie Berufsqualifikationen ein, nicht zuletzt handwerkliche, mit denen Kinder ansonsten in der Schule kaum in Berührung kämen. Viele Freizeitpädagog:innen verfügen dank eigener Migrationsbiografie über sprachliche Kompetenzen, die den engen Fremdsprachenkanon an Schulen erweitern und für Kinder somit zu ei ner überaus wertvollen sprachlichen und metasprachlichen Lernressource werden können. Freizeitpädagogik bringt also neue Perspektiven, Methoden, Kompetenzen und Inhalte in den schulischen Alltag.
Bereits vor mehr als zehn Jahren wurde der Begriff Freizeitpädagogik im Schulbereich verankert. Ein großes Paket zum Ausbau der schulischen Tagesbetreuung wurde geschnürt, eine neue Ausbildung eingeführt. „Um für die Kinder genügend hochwertige Betreuungsplätze mit umfangreichem Angebot auch im musisch-kreativen und sportlichen Bereich anbieten zu können, wird nun an den Pädagogischen Hochschulen berufsbegleitend der zweisemestrige Lehrgang zur Ausbildung von Freizeitpädagogen angeboten“, so die SPÖ in einer Presseaussendung 2011. Durch den neuen Beruf mit weniger Ausbildungsleistung (60 ECTS) als bei Lehrer:innen zog eine Hierarchisierung in die Schule ein, gleichzeitig stieg der Bedarf an interdisziplinärer Zusammenarbeit. In den meisten Bundesländern wurden und werden Freizeitpädagog:innen nicht als öffentlich Bedienstete beschäftigt, sondern von privatwirtschaftlichen bzw. dem Staat ausgelagerten Trägern angestellt. Damit unterliegen sie anderen Regularien und einem anderen Dienstrecht, haben eine andere gewerkschaftliche Vertretung als die Lehrer:innen, unterstehen anderen Hierarchien. Aus heutiger Sicht gewinnt dies aus einer neuen Perspektive an Aktualität: beim derzeitigen und auch für die nächsten Jahres prognostizierten Lehrer:innenmangel in vielen Bundesländern Österreichs ist es vermutlich kein Zufall, dass der Gesetzgeber gerade jetzt die Eingliederung der Freizeitpädagogik in die Bildungsdirektionen plant, verbunden mit einer inhaltlichen Neudefinition als „Assistenzpädagog:innen“. Zudem entziehen sich die ausgelagerten freizeitpädagogischen Arbeitgeber, wie z.B. „Bildung im Mittelpunkt“ in Wien (eine GmbH), der politischen Kontrolle durch die Landtage. In Phasen sich verstärkender politischer Polarisierungen kann auch dies mit ein Grund sein, dass die Integration der schulischen Freizeitpädagogik in die Bildungsdirektionen nun von Regierungsseite angegangen wird.
Als wir mit der Arbeit an diesem Heft begannen, waren diese aktuellen bildungspolitischen Entwicklungen im Bereich schulischer Freizeitpädagogik noch nicht in Sichtweite. Bei der Konzeption des Hefts ging es uns darum, die Potentiale und mannigfachen Wirkfelder von Freizeitpädagogik ans Tageslicht zu holen und verstehbar zu machen und somit ihre Anerkennung in pädagogisch-institutionellen Kontexten, nicht zuletzt Schule, zu verstärken. In diesem Sinne umfasst das Heft historische und politische Abrisse, den Blick auf unterschiedliche institutionelle Rahmungen von Freizeitpädagogik, deren pädagogische Potentiale und darin enthaltene Entwicklungschancen für Kinder, Jugendliche und in weiterer Folge die gesamte Gesellschaft. Die aktuellen bildungspolitischen Entwicklungen haben wir im Laufe der Arbeit an diesem Heft einzufangen versucht.
Im ersten Kapitel „Grundsätzliches“ gibt Susi Schrott in ihrem einleitenden Aufsatz einen umfassenden historischen Überblick über die Entwicklungslinien von verbandlicher und offener Kinder- und Jugendarbeit, eingebettet in einen Kurzabriss der Entwicklung der Begriffe Kindheit und Jugend. Die jeweiligen institutionellen Kontexte und Professionalisierungsschritte werden kritisch analysiert und dabei insbesondere durch die Darstellung der Potentiale und Qualitäten der offenen Kinder- und Jugendarbeit von schulischer Freizeit/pädagogik abgegrenzt.
Mit der Frage, wozu Freizeit eine eigene Pädagogik und eigene Pädagog:innen braucht, beschäftigt sich James Loparics. Dazu betrachtet er Theorien der Freizeit, setzt Freizeit in Beziehung zu Freiheit und referiert empirische Befunde. Als Ziel von Freizeitpädagogik und als Aufgabe von Freizeitpädagog:innen konstatiert er schließlich, die Freiheit des Individuums über die eigene Lebenszeit aufrecht zu erhalten und zu erweitern.
Olivia Fischer beleuchtet informelle Lernchancen, die sie in schulischen Tagesangeboten verortet. Als wesentliche Bestandteile benennt sie eine lern- und entwicklungsorientierte Fehlerkultur, alternative Lernformate, Interessensförderung, selbstgesteuertes Lernen, das Lernen an externen Lernorten, die Unterstützung bei der Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen, die Förderung von 21st Century Skills, sowie die Entfaltung von Mehrsprachigkeit und Diversität.
Im zweiten Teil „Rahmenbedingungen“ betrachtet Klaus Kindler die politische Genese schulischer Freizeitpädagogik sowie den Begriff „Freizeit“ im kapitalistischen Verwertungszusammenhang, auch mit besonderem Augenmerk auf genderspezifische Arbeitsteilung. Daraus spezifiziert er Implikationen für schulische Freizeitpädagogik, betrachtet die Rolle der Freizeitpädagogik und der Freizeitpädagog:innen im schulischen Zusammenhang und beleuchtet bei aller kritischen Analyse Möglichkeitsräume freizeitpädagogischer Arbeit.
Mit dem Blick auf herkunftsbedingte Bildungsungleichheiten betrachtet Elke Larcher schulische Ganztagsangebote, in denen sie eine wesentliche Gelingensbedingung für mehr Chancengerechtigkeit sieht. Daher fordert sie vehement einen weiteren Ausbau der Ganztagsschulen. Gleichzeitig verweist sie auf die dringende Notwendigkeit einer hochwertigen Qualitätsentwicklung der Ganztagsschulkonzepte auf struktureller und bildungspolitischer Ebene.
Verena Corazza, Henrike Kovačič und Gabi Lener beschäftigen sich mit den organisatorischen Rahmenbedingungen schulischer Ganztagsangebote, insbesondere in Wien. Einen wesentlichen Stellenwert nimmt dabei die Problematik ein, dass ganztagsschulisches Personal zwei verschiedenen Dienstgebern unterstellt ist, was jede Menge Raum für Probleme schafft. Der neue Gesetzesentwurf, der dazu seit dem Frühjahr ´23 vorliegt, würde zwar das Problem lösen, indem ein gemeinsamer Dienstgeber angedacht ist, würde jedoch gleichzeitig die Gefahr eines Qualitätsverlusts schulischer Freizeitpädagogik bedeuten und zudem die Freizeitpädagog:innen arbeits- und besoldungsrechtlich schlechterstellen als bisher.
Die pädagogische Perspektive des größten Arbeitgebers für schulische Freizeitpädagog:innen in Wien, BiM (Bildung im Mittelpunkt), veranschaulicht der Text von Marta Rauter, Leiterin des Bereichs Wiener Schulen und Freizeitpädagogik. Dieser Text ist ein Abdruck aus dem „Handbuch zur Dokumentation der pädagogischen Arbeit bei der BiM“, der allen Freizeitpädagog:innen der BiM als verbindliches pädagogisches Konzept zur Kenntnis gebracht wird.
Im Weiteren beschäftigt sich das Heft mit unterschiedlichen „freizeitpädagogischen Handlungsfeldern“. Maria Lodjn zeigt Lernchancen auf, die sich abseits starrer Schulkulturen und -pädagogiken für Jugendliche eröffnen, mit besonderem Blick auf Jugendliche aus sozioökonomisch schlechter gestellten Herkunftsmilieus. Mit der Vienna HobbyLobby stellt sie eine gemeinnützige Organisation vor, die sich um genau deren Chancen gezielt bemüht. Gleichzeitig fordert die Autorin die Verantwortung des Schulsystems ein, sich vermehrt für Chancengerechtigkeit einzusetzen und dafür nötige schulentwicklerische Schritte zu gehen.
Julia Bösendorfer beschreibt in ihrem Beitrag, welches pädagogische Potential das gemeinsame Mittagessen in ganztagsschulischen Settings bieten könnte. Bedauerlich ist, dass es solch eine erhöhte Darstellung dieses banal erscheinenden Themas braucht, um den Wert der Arbeit von Freizeitpädagog:innen überhaupt erst sichtbar zu machen. Anzumerken wäre überdies, dass zumindest in Wien extrem strikte Vorgaben die Anzahl der anbietenden Caterer drastisch minimiert, somit gemeinwesenorientierte Kooperationen zwecks Schulverpflegung z.B. in Bildungsgrätzln gar nicht erst entstehen können.
Das Projekt Nightingale wird von Sophie Österreicher dargestellt. Im Projekt haben Kinder, denen familiär die Möglichkeit für anregende Freizeiterfahrungen nicht ausreichend zur Verfügung steht, die Chance, in Begleitung von Studierenden diese zu machen. Die Studierenden sammeln dadurch wertvolle pädagogische Erfahrungen und lebensweltliche Einblicke.
Gregor Ruttner-Vicht erläutert, was unter theaterpädagogischen Methoden zu verstehen ist und inwiefern sie für die Entwicklung von Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen, für die Persönlichkeitsbildung, für Kommunikation und die Entwicklung sozialer Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen wertvolle Beiträge liefern können.
Zweifelsohne gäbe es noch viele weitere freizeitpädagogische Fragestellungen und Arbeitsbereiche, die einer Erwähnung und Betrachtung wert wären. Mit dem großen Feld der Erlebnis- und Outdoorpädagogik wäre beispielsweise eine ausführliche Auseinandersetzung sicherlich sehr spannend. Leider war es uns nicht möglich, dazu in diesem Heft einen qualitätsvollen Beitrag zu platzieren. Wir hoffen trotzdem, dem Anspruch gerecht geworden zu sein, einen Blick auf eine Palette freizeitpädagogischer Aktionsfelder und Themenstellungen ermöglicht zu haben und damit die bildungspolitische Diskussion um Freizeitpädagogik weiter zu befördern. Und wir wünschen anregende Lesestunden!
1 schulheft setzte sich mit dem Themenbereich allerdings von seinen Anfängen an, z.B. im Rahmen der Beschäftigung mit Jugendkultur, auseinander. Vgl. SH 18: Jugendkultur, SH 25: Jugend und Politik. (Download unter www.schulheft.at)
2 Vgl. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen; Frankfurt/Main. Oder als Kurzbeschreibung: https://de.wikipedia.org/wiki/Panoptismus.
3 So die Bezeichnungen, die die Lehrfächerverteilung vorsieht.
Autor:innen dieser Ausgabe
Herausgeber:innen dieser Ausgabe
Gabi Lener
James Loparics
Susi Schrott
Thomas Wieselmayer
Julia Bösendorfer, Volksschullehrerin in Waidhofen/Ybbs in der neu initiierten Mehrstufenklasse „Freiraum.Klasse“, studiert nebenbei den Master Primarstufe an der PPH Burgenland mit dem Schwerpunkt Lernraum Natur.
Verena Corazza, Volksschullehrerin; tätig in unterschiedlichen Berufsfeldern; seit 1990 in Wien als Lehrerin beschäftig, davon 23 Jahre an der Integrativen Lernwerkstatt Brigittenau; seit 13 Jahren Leiterstellvertreterin, Mitorganisatorin des Schulversuchs ILB – eine inklusive, ganztägige öffentliche Schule mit ausschließlich Mehrstufenklassen für 6- bis 15-Jährige.
Olivia Fischer ist ausgebildete Lehrerin für Physik und Englisch und hat verschiedene Projekte im Bildungsbereich im In- und Ausland geleitet. Nach einer Anstellung an der Universität Wien ist sie mittlerweile in Lehre, Forschung und Hochschulentwicklung an der Pädagogischen Hochschule Wien tätig. Sie begleitet darüber hinaus Schulen in der Organisationsentwicklung und lehrt unter anderem im Hochschullehrgang für Freizeitpädagogik.
Klaus Kindler, seit 1998 Freizeitpädagoge an der öffentlichen Volks- und Hauptschule Integrative Lernwerkstatt Brigittenau in Wien.
Henrike Kovačič, Freizeitpädagogin in einer Ganztagesvolksschule in 1020 Wien, Mitglied des Betriebsrats der Bildung im Mittelpunkt GmbH., Frauenbeauftragte der ig social in der gpa.
Elke Larcher ist Referentin für Schulpolitik und Elementarpädagogik in der Abteilung Bildungspolitik der AK Wien.
Gabi Lener ist Soziologin, Volks- und Sonderschullehrerin und leitet eine inklusive Ganztagsvolksschule im Wiener Bildungsgrätzl LeoMitte.
Maria Lodjn unterrichtet seit fast 30 Jahren an Mittelschulen in Wien, derzeit im 20. Bezirk. Ihr Schwerpunkt liegt im Bereich Kunst. Außerdem ist sie bei der Vienna HobbyLobby Trainerin und hat dort eine Theatergruppe. Zusätzlich ist sie freie Autorin und Illustratorin. Sie engagiert sich u.a. im Blog „schulgschichtn“ (https://www.schulgschichtn.com/).
James Loparics studierte das Lehramt an Hauptschulen, Erziehungswissenschaft und Bildung für nachhaltige Entwicklung. Berufserfahrung als Freizeitpädagoge und Psychotherapeut, Lehrerfahrung an Volksschule, Neuer Mittelschule, der Pädagogischen Hochschule und der Universität.
Sophie Österreicher ist aktuell Masterstudentin für das Lehramt der Primarstufe an der Pädagogischen Hochschule Wien. Ihre Leidenschaft, sich für bildungspolitische Themen wie die Diskriminierung und Ausgrenzung von Kindern, Lehrpersonen oder anderen Menschen, einzusetzen, spiegelt sich in ihrer Masterarbeit über Rassismus gegenüber Lehrpersonen mit Migrationshintergrund und ihrer Teilnahme am Projekt Nightingale wider. Seit Herbst 2023 unterrichtet sie als Lehrerin an einer Volksschule in Wien.
Marta Rauter praktizierte über zehn Jahre selbst als Freizeitpädagogin an einer Wiener Volksschule und leitet aktuell den Geschäftsbereich Wiener Schulen und Freizeitpädagogik der BiM – Bildung im Mittelpunkt. Sie etablierte dort ein Fortbildungssystem, das besonderes Augenmerk auf Sonderpädagogik, Inklusion und Diversität legt. Dadurch setzt sie sich mit großer Leidenschaft für Inklusion und Integration aller Kinder, den respektvollen Umgang miteinander und auch die Bedürfnisse der Freizeitpädagog:innen der BiM – Bildung im Mittelpunkt ein.
Gregor Ruttner-Vicht, Theater- und Freizeitpädagoge, Coach, sowie Personal- und Organisationsentwickler, Vorstand der BeyondBühne in Österreich.
Susi Schrott, Ausbildungen in Spielpädagogik, Grundkurs Jugendarbeit, Mediation und Master in Sozialmanagement & Leadership; seit 1987 mit Begeisterung in der offenen Kinder- und Jugendarbeit im Verein Wiener Jugendzentren tätig, in vielen Bezirken Wiens als Jugendarbeiterin, Leitung, Vernetzerin und als Eine, die neugierig ist, die nachfragt und den Mund aufmacht.
Thomas Wieselmayer, seit 2012 in der Pädagogik, erst im Freizeitbereich, aktuell Lehrer einer Mehrstufeninklusionsklasse in Wien, engagiert sich seit Jahren im Bereich Inklusion und soziale Gerechtigkeit.
Bestellen
Studienverlag: Schulheft 190
Teaching to the Test
Was die Testflut mit uns allen anstellt
Klappentext
In den letzten beiden Jahrzehnten wurden im österreichischen Schulsystem erstmals in großer Anzahl standardisierte Leistungstests eingeführt. Vordergründig als objektivierende Instrumente zur Unterstützung des Unterrichtsgeschehens konzipiert, haben sich damit Unterrichtsinhalte und Unterrichtsformen in vielfältiger, oft unbeabsichtigter Weise verändert und den Testformaten angepasst. Dieses schulheft widmet sich dem kritischen Diskurs zum Thema Teaching to the Test und wie durch standardisierte Tests Selektionsmechanismen befördert und Systemzwänge verdichtet werden.
Inhalt
Editorial
Grundsätzliches
Julia Köhler
Ein lerntheoretischer Blick auf das Thema
James Loparics
QMS: Ein weiterer Meilenstein der Ökonomisierung
Kritische Überlegungen zum aktuellen österreichischen Qualitätsrahmen für Schulen
Lorenz Lassnigg
„Outcome-Orientierung“
Testen, Testen, Testen versus reflexive Beurteilung
Florian Sobanski
Daten – zur Schulentwicklung oder zur Selbstverteidigung?
Fokus Schule
Marlies Adler und Verena Corazza
Die Testenden
Ausschnitte aus Interviews mit zehn Pädagog:innen
Mi-Cha Flubacher und Verena Plutzar
Messen – Bewerten – Prüfen
im Kontext von Deutsch als Zweitsprache
Forderungen an die Politik
Doris Englisch-Stölner und Gabriele Prokop
MIKA-D in der Volksschule:
Spracherhebung objektiv und exklusiv?
Wanda Grünwald
Teaching to the Test und Freinetpädagogik – eine Unvereinbarkeit
Schüler:innen-Resonanzen
Lina Feurstein
Schule ohne Prüfungen – unvorstellbar?
Joy Muth und Marko Lüftenegger
Teaching to the Test-Praktiken aus Schüler:innenperspektive
Josef Reichmayr
Die Sicht der Schüler:innen
Gespräche an Wiener Schulen
Eltern am Wort
Barbara Trautendorfer
Lernen für die Noten
Jasmin Hammer
Ich gehe gerne zur Schule
Nachrufe
Alfred Schirlbauer
Gertraud Bolius
Autor:innen dieser Ausgabe
Nachtrag zu schulheft Nr. 188 Digitalisierung und Bildung:
Auf S. 108 (A. Förschler et al: Wie wirken datengetriebene Lernplattformen? Das Beispiel „Antolin“) haben wir den Verweis auf die Original-Publikation vergessen: Überarbeitete und gekürzte Fassung des Artikels von A. Förschler et al: Zur (ambivalenten) Wirkmächtigkeit datengetriebener Lernplattformen. Eine Analyse des „Antolin“-Leseförderungsprogramms. – In: MedienPädagogik Themenheft 44/2021, S. 52-72.
Editorial
Teaching to the Test
… und was das mit uns allen anstellt
Das österreichische Schulsystem, dessen Organisationsparameter seit jeher dem Aussieben und Umverteilen von Schüler:innen huldigen und diesen untergeordnet sind, erlebt in Verbindung mit aktuellen politischen Konstellationen eine Neubelebung der schon immer unwürdigen Kategorisierung von Menschen: Die klassische Rangfolge von „Sehr Gut“ bis „Nicht Genügend“, die nächste Rangfolge je nach Punktezahl bei den Tests, und so oder so die Umsteuerung, also Lenkung von Kindern und Jugendlichen in die eine oder andere Schultype – bestenfalls ansatzweise reale Leistungsfähigkeiten abbildend.
Diese schulheft-Ausgabe widmet sich dem kritischen Diskurs zu Fragestellungen rund um Tests, Prüfungen, Leistungsrückmeldungen und Noten versus „personalized learning“ und möchte Informationen liefern, Hintergründe erhellen sowie persönliche Betroffenheiten sichtbar machen. Der überparteiliche Verein „Schulautonomie Monitoring Österreich“ hatte für Ende März 2020 in Klagenfurt einen Bildungskongress zum Thema „Hintergründe und Folgen neuer Testverfahren in Bildungseinrichtungen“ fix und fertig organisiert, der dann kurzfristig der Corona-Pandemie zum Opfer fiel. Das vorliegende schulheft soll das Thema weiterverfolgen und vertiefen.
Jahrzehntelang wird (nicht nur in Österreich) um die Sinnhaftigkeit der Ziffernnoten in Verbindung mit schulischen Lernprozessen gerungen. Es wurden viele Alternativen entwickelt und erprobt, pädagogische Hoffnungen gegen die klassische institutionelle Selektion gestellt.
Nicht zuletzt auf Basis dieser kritischen Strömung hat die ministerielle Schulbürokratie, gestützt auf massive politische Interventionen in den letzten Jahren, mehr und mehr Testverfahren in Stellung gebracht – und zwar inzwischen bereits vom Kindergarten aufsteigend bis hin zur Matura. Konsequent und rigide wurden mittlerweile auch selbstherrlich amtlicherseits alle Schulversuche, die alternative Wege erproben, abgestellt.
Aber selbst wenn die heranwachsende Generation alljährlichen standardisierten „Pickerl“-Überprüfungen unterzogen wird: Werden damit Lern-Freude und Neugier der Schüler:innen gesteigert, bessere Lernerfolge gezeitigt, eine den Herausforderungen unserer Zeit entsprechende Bildung erreicht?
Originellerweise sind die „objektivierten“ Tests nur intentional ein Ersatz für die immer schon höchst fragwürdigen Ziffernnoten. Praktisch legt sich über die Schulen und die Pädagog:innen und vor allem über die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine immer dichtere Dunstglocke von internen und externen Tests, von auf Schritt und Tritt aufblitzenden Ziffernnoten, neuerdings auch offiziell gewünschten Kommentaren zu diesen Noten.
Wie schnell die rollende Testbatterie ganz reale Selektionsmechanismen befördert und alltagspraktisch beinhart wirksam werden kann, zeigen die MIKA-D Tests (Messinstrument zur Kompetenzanalyse-Deutsch) in Verbindung mit der zentralistisch erzwungenen Einrichtung von Deutschförderklassen.
Was bewirkt dieser Trend bei den Betroffenen? Wie gehen Schüler:innen, Pädagog:innen und Eltern mit den sich verdichtenden Systemzwängen um? Wird Inklusion damit automatisch zu einer Worthülse, hinter der sich de facto unverblümt Exklusion verbirgt?
Ganz grundsätzlich geht Julia Köhler in ihrem Beitrag der Frage von Lerntheorien nach – und was diese in der einen oder anderen Form in der Praxis von Bildungseinrichtungen bewirken.
Qualitätsrahmen, Qualitätsmanagement, Schulentwicklungsplan – so lauten die neuesten ministeriellen Schlagworte und amtlichen Vorgaben für Schulen. James Loparics zeigt in seinem Beitrag auf, inwiefern zwar die Schulen sich hinterfragen sollen/müssen, eine Hinterfragung des amtlichen Qualitätsrahmens aber nicht vorgesehen ist und dies einen weiteren Meilenstein bei der Ökonomisierung des Schulwesens setzt.
Den internationalen Bezug zu teilweise bereits seit Jahrzehnten eingefädelten Testmaschinerien und dazugehörigen quasi-monopolistischen Firmenkonstrukten im Zusammenspiel mit staatlichen Auftraggebern stellt Lorenz Lassnigg in seinem Beitrag unter dem Schlagwort der Outcome-Orientierung her. Österreich springt hier auf einen Zug auf, der schon länger unterwegs ist – aber deswegen keineswegs erfolgversprechender für die Bildungskarriere der heranwachsenden Generation sein muss.
Eine differenzierte Auseinandersetzung zum Thema standardisierter Tests am Beispiel der Bildungsstandardüberprüfung in Österreich, die 2012 implementiert wurde, gelingt Florian Sobanski inseinem Beitrag „Daten – zur Schulentwicklung oder zur Selbstverteidigung?“. Welche Erwartungen daran geknüpft wurden, welche Ressourcen aufgewendet wurden und welche Erkenntnisse und Hoffnungen sich letztendlich eingelöst oder nicht eingelöst haben, sind in diesem Artikel nachzulesen.
Welche Prüfungen und Tests, Schularbeiten und mehr kommen im Schulalltag ständig zum Einsatz? Marlies Adler und Verena Corazza stellen dies in einer Übersicht dar und haben mit zehn Pädagog:innen unterschiedlicher Schultypen (VS, MS, ASO, AHS, HTL) gesprochen. Es eröffnen sich interessante Einblicke, wie es den „Tester:
innen“ mit diesen Instrumentarien geht und wie sich das auf die alltägliche Lernarbeit mit Kindern und Jugendlichen auswirkt.
Wird der Großteil der Schüler:innen mehr und mehr Bewertungstests
innerhalb des Systems unterzogen, so müssen jene mit anderer Muttersprache sich erst erfolgreich mittels Deutschtests ins System hineintesten lassen – oder aber in separaten Schienen eine Sprach-Lern-Warteschleife ziehen. Mi-Cha Flubacher und Verena Plutzar berichten von einem internationalen Kongress in Salzburg 2022 und den daraus resultierenden Forderungen.
Und wie der MIKA-D Test sich in der praktischen Umsetzung aus Sicht von 15 Volksschulpädagog:innen (selbstredend nicht repräsentativ, aber nichtsdestoweniger sehr aufschlussreich) darstellt, das berichten Doris Englisch-Stölner und Gabriele Prokop in ihrem spannenden Bericht.
Die Unvereinbarkeit von Teaching to the Test und Freinet-Pädagogik zeigt Wanda Grünwald auf. Geht es in der Freinet-Pädagogik um den gemeinsamen Erwerb von Handlungsfähigkeit, um Lernen als einen sozialen Prozess, so steht das dem nur am abprüfbaren Zuwachs isolierter Wissenseinheiten orientierten Teaching to the Test diametral entgegen.
Lina Feurstein zeigt in ihrem Beitrag, dass die Coronajahre mit Anpassungen der Leistungsbeurteilung kurz ein Türchen in eine neue Richtung geöffnet hatten, jedoch alle kleinen Schritte der Lockerung von Prüfungs- und Maturaverordnungen zum Leidwesen des Lernens der Schüler:innen längst wieder zurückgenommen wurden.
Joy Muth und Marko Lüftenegger spannen in ihrem Beitrag einen Bogen vom Ursprung der standardisierten Tests zu den heutigen Auswirkungen dieser Tests auf verschiedene Aspekte von Unterrichtsinhalten, Unterrichtsformen und Gelerntem. Sie präsentieren ein Forschungsprojekt, das mit Schüler:innen aus der elften Schulstufe durchgeführt wurde, in dem sie untersuchten, welche TTT-Praktiken zur Vorbereitung auf die Zentralmatura von den Schüler:innen wahrgenommen wurden.
Josef Reichmayr hat sich auf Stimmen- und Spurensuche an vier verschiedenen Schulstandorten und in Kleingruppengesprächen mit sehr unterschiedlich von Tests Betroffenen gemacht und berichtet darüber: teils im Originalton, teils in der Zusammenschau.
Auch die Elternperspektive soll in diesem Mosaik nicht fehlen. Barbara Trautendorfer und Jasmin Hammer schildern ihre persönliche Sicht und daraus resultierende Initiativen.
Bildungserfolg schon im Kindergarten „optimieren“? Welche Erwartungen und Trends zeichnen sich bezüglich Optimierungserwartungen und -bestrebungen bereits im Bereich der „Frühen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE)“ ab und welche Bedeutung hat dies für die institutionelle Begleitung der Kinder bis zum Schuleintritt, z.B. im Zusammenhang mit Inklusion. Fragen wie diese werden in der FBBE diskutiert, aus terminlichen Gründen konnte ein entsprechender Beitrag nicht mehr in diesem Heft untergebracht werden.
Wir hoffen, die Zusammenstellung dieser schulheft-Nummer ist gut gelungen und garantiert Neugier und Erkenntnisgewinn beim Lesen!
Die schulheft-Herausgeber:innen
In den Beiträgen werden unterschiedliche Gender-Schreibweisen und Zitationsrichtlinien verwendet.
Autor:innen dieser Ausgabe
Herausgeber:innen dieser Ausgabe
Verena Corazza
Barbara Falkinger
Julia Köhler
Gabi Lener
Josef Reichmayr
Marlies Adler studierte zwischen 2011 und 2014 Marketing und Sales und arbeitete als Unternehmensberaterin, sowie als Vertriebsmanagerin. Im Zuge einer beruflichen Neuorientierung studiert sie Lehramt für Mathematik und Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung an der Universität Wien und ist seit 2019 Lehrerin an einer inklusiven Mittelschule in Wien sowie Teil der Protestbewegung SCHULE BRENNT.
Verena Corazza, Volksschullehrerin; tätig in unterschiedlichen Berufsfeldern; seit 1990 in Wien als Lehrerin beschäftig, davon 23 Jahre an der Integrativen Lernwerkstatt Brigittenau; seit 13 Jahren Leiterstellvertreterin, Mitorganisatorin des Schulversuchs ILB – eine inklusive, ganztägige öffentliche Schule mit Mehrstufenklassen für 6- bis 15-Jährige.
Doris Englisch-Stölner ist Grundschullehrerin, Ethnologin und seit mehreren Jahren Mitarbeiterin für den Bereich Primarstufe im Sprachförderzentrum Wien, einer Abteilung des Pädagogischen Dienstes der Bildungsdirektion Wien.
Barbara Falkinger, Mittelschullehrerin, Mediatorin und Schulentwicklungsberaterin, leitet eine Mittelschule in Wien.
Lina Feurstein, Bundesvorsitzende der Aktion kritischer Schüler_innen, zuvor AHS-Landesschulsprecherin und Mitglied der Bundesschüler_innenvertretung 2021/22; studiert Vergleichende Literaturwissenschaften und Rechtswissenschaften an der Universität Wien.
Mi-Cha Flubacher ist Angewandte Sprachwissenschafterin (Universität Wien, Institut für Sprachwissenschaft) und seit Jahren engagiertes Mitglied im Netzwerk SprachenRechte.
Wanda Grünwald ist Volksschullehrerin in Wien, Obfrau der freinetgruppe Wien (https://freinetgruppewien.wordpress.com/) und Schriftführerin der Kooperative Freinet Österreich (https://www.kooperative-freinet.at/)
Jasmin Hammer, geb. in Hamburg, lebt dzt. in Wien; Theatermalerin und Bühnengestaltung; Mitstreiterin in der Initiative „BESSERE SCHULE JETZT!“, die sich vorwiegend für mehr Ressourcen, echte Inklusion und gerechte Chancen für alle Kinder in den Wiener Pflichtschulen einsetzt. Ein Sohn, geb. 2014; besucht eine integrative Mehrstufenklasse in der GTVS 3 Landstraße.
Julia Köhler studierte zunächst Schauspiel an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien und später Bildungswissenschaft an der Universität Wien. Sie ist Senior Lecturer am Zentrum für Lehrer*innenbildung, Universität Wien; Lektorin u.a. an der Akademie der bildenden Künste, Wien; Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Theaterpädagogik, Kulturelle Bildung.
Lorenz Lassnigg, Senior Researcher am IHS-Institut für Höhere Studien Wien, Forschungsgruppe equi-Education and Employment, arbeitet zu Fragen der Bildungspolitik.
Gabi Lener, Soziologin und Sonderpädagogin, leitet eine Ganztagsvolksschule in Wien.
James Loparics studierte das Lehramt für Hauptschulen, Erziehungswissenschaft und Bildung für nachhaltige Entwicklung. Berufserfahrung als Freizeitpädagoge und Psychotherapeut, Lehrerfahrung an Volksschule, Neuer Mittelschule, der Pädagogischen Hochschule und der Universität. Gegenwärtig Universitätsassistent an der Johannes Kepler Universität Linz an der Abteilung für Bildungsforschung.
Marko Lüftenegger hat Psychologie studiert, 2012 zum Thema „Lebenslanges Lernen als Ziel von Unterricht“ promoviert und sich 2019 im Fach Psychologie habilitiert. Er leitet seit 2017 den Arbeitsbereich „Entwicklungspsychologie und Bildungspsychologie im Schulalter“ am Institut für Lehrer*innenbildung und am Institut für Psychologie der Entwicklung und Bildung an der Universität Wien.
Joy Muth studierte Psychologie an der Universität Wien, wo sie 2019 zum Thema „The effect of testosterone on social choice preferences in a repeated competition game” ihre Masterarbeit schrieb. Derzeit Doktorandin am Zentrum für Lehrer*innenbildung der Universität Wien, wo sie ihre Doktorarbeit zum Thema „Teaching to the test in Austrian secondary schools“ verfasst.
Verena Plutzar forscht seit 1991 zu den Themen Sprachelernen im Kontext von Migration und Flucht in und an Erwachsenenbildungsinstitutionen, NGOs, Universitäten, Schulen und Kindergärten, Mitbegründerin des Netzwerk SprachenRechte, seit 2020 Hochschullehrende an der KPH Wien/Krems.
Gabriele Prokop ist seit vielen Jahren Schulleiterin an einer öffentlichen Pflichtschule in Wien und in Organisationsentwicklung und systemischer Beratung ausgebildet und war für die PH Wien als Referentin und Beraterin tätig.
Josef Reichmayr, aufgewachsen in Graz, u.a. als Speditionsarbeiter, Hotelgehilfe, Schofför tätig. Volks- und Sonderschullehrer (VS Pfeilgasse), Schwerpunkte alternative Leistungsbeurteilung, offenes Lernen, Integration. Schulleiter (Integrative Lernwerkstatt Brigittenau: gemeinsame Schule von 6 – 15) bis 2019. Mitbegründer von Humane Schule, Österreichische BildungsAllianz, Schulplattform Österreich, Schulautonomie Monitoring Österreich – Überparteiliches Lobbying für kindergerechte Schulen.
Florian Sobanski arbeitet seit 2019 an der Pädagogischen Hochschule Wien im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Gegenwärtig schließt er eine Ausbildung als Schulentwicklungsberater ab. Zuvor war er zehn Jahre lang im Bildungsministerium u.a. mit dem Aufbau des BIFIE sowie mit Vorhaben im Bereich der datengestützten Schulentwicklung (z.B. Projektleitung „GruKo“ 2017-2019) befasst.
Barbara Trautendorfer, geb. 1980 in OÖ, lebt seit 2001 in Wien, zwei Kinder (2012, 2014), verheiratet, beruflich gewerkschaftlich
verortet, Öffentlichkeitsarbeit, leidenschaftlich engagiert für Themen wie Bildungspolitik, Gleichberechtigung, Kinderrechte, Inklusion.
Bestellen
Studienverlag: Schulheft 189
Digitalisierung und Bildung
Materialien zu einem problematischen Verhältnis
Klappentext
Digital unterstütztes Lernen, so ein großes Versprechen, ermöglicht es, Schüler:innen besser individuell zu fördern. Eine kritische Auseinandersetzung mit Digitalisierungsprozessen offenbart jedoch, dass – angetrieben und befeuert durch die ökonomische Macht der großen digitalen Player – aktuell vor allem vorhandene Trends zur Individualisierung von Verantwortung und Kompetenzorientierung befördert werden. Dabei bleiben, so die Essenz dieses schulhefts, solidarisches Lernen und Bildung im Sinne einer Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen zunehmend auf der Strecke.
Inhalt
Editorial
Grundsätzliches
Sieglinde Jornitz, Felicitas Macgilchrist
Datafizierte Sichtbarkeiten und schulische Praxis
Was die Digitalisierung (un)sichtbar macht
David Haselberger, Fares Kayali
Dorothy und die Zauberer der Digitaltechnik
Zur Dialektik der digitalen Bildung
Käte Meyer-Drawe
Im Verborgenen lernen: Künstliche Intelligenz
Juliana Rossi Duci, Luiz A. Calmon Nabuco Lastória,
João Mauro G. V. de Carvalho
Eine Phantasie der Allmacht
Vom Versprechen des an die Technologie angepassten Lernens
Politische Aspekte
Katarina Froebus, Daniela Holzer
Universitäre Online-Lehre: Machtverschiebungen und neue Disziplinierungsräume
Inken Heldt
Mehr als Fake News, Facebook und Filterblasen
Politische Bildung in einer von Digitalität geprägten Welt
Fokus Schule
Gesine Kulcke
Vom Schmuddelheftchen zum Schmuddelvideo
Vorstellungen von Lehramtsstudent:innen über das Internet
Annina Förschler, Sigrid Hartong, Anouschka Kramer, Claudia Meister-Scheytt und Jaromir Junne
Wie wirken datengetriebene Lernplattformen?
Das Beispiel «Antolin»
Heike Deckert-Peaceman, Gerold Scholz
Click and Drop. Über schulisches Wissen am Beispiel der Lernplattform Anton
Lydia Brack, Gesine Kulcke
Die Rede über Erklärvideos
Von der Exklusion des lernenden Subjekts
Eva Neureiter
Freie Medien und Bildungsarbeit
Autor:innen dieser Ausgabe
Editorial
Mit der Feststellung, dass in der aktuellen Debatte über Digitalisierungsprozesse, die den Bildungsbereich betreffen, bildungstheoretische Annahmen und Erkenntnisse immer wieder übergangen werden, haben wir für die aktuelle Ausgabe des Schulhefts vor allem versucht, einen bildungstheoretischen Zugriff auf das Thema in den Vordergrund zu stellen.
In der von politischen Entscheidungsträger:innen forcierten „Digitalisierungsoffensive“ erkennen wir einen verstärkten bildungspolitischen Ein- bzw. Angriff zugunsten von Kompetenzorientierung und Individualisierung, der sichtbar zu machen ist. Hervorgebracht wird ein „Bildungs“-Verständnis, das mit einem aufklärerischemanzipatorischen Bildungsbegriff nicht mehr viel zu tun hat. Diese Verkürzung von Bildung, Schule und Digitalisierung bildet sich auch auf den Wirtschaftsseiten der Tagezeitungen ab, wenn z.B. die (österreichische) Online-Nachhilfe-Firma GoStudent als „die größte Schule der Welt“ vorgestellt wird. Im Digitalisierungsdiskurs wird hier ein Nachhilfe-Institut, das online und tendenziell global agiert, mit Schule gleichgesetzt. Dieser Verkürzung wollen wir etwas entgegensetzen.
Thema ist für uns aber auch die ökonomische Privatisierung, denn neben den Schulbuchverlagen erobert mit den IT-Konzernen
eine zweite, im Vergleich zu den Verlagen deutlich finanzstärkere Gruppe von Playern die Bühne. Schulbuchverlage und IT-Konzerne arbeiten inzwischen gut zusammen. In von Unternehmen bereitgestellten digitalen Lernumgebungen werden Learning Analytics und Visualisierungssoftware eingesetzt, die Lerndaten multidimensional und übertragbar darstellen. Es kommt offensichtlich zu einer Verquickung von Interessen privater Konzerne mit der grundsätzlich staatlichen Bildungspolitik.
Unter den Autor:innen, die wir für unser Vorhaben gefunden haben, sind u.a. Gründer:innen der Netzwerkinitiative UNBLACKTHEBOX (unblackthebox.org), die ihr Programm schon im Namen trägt. Es geht darum, einen Zugang zu den oft verdeckten Logiken, Prozessen und gesellschaftlichen Zusammenhängen von Datafizierung und Digitalisierung, Algorithmen und KI zu ermöglichen. Wir empfehlen unseren Leser:innen unbedingt, die Dienste dieser Initiative
zu nutzen.
Die Beiträge dieser Nummer haben wir in drei Kapitel gegliedert: 1. Grundsätzliches; 2. Politische Aspekte; 3. Fokus Schule.
Ganz im Sinne der oben genannten Initiative liefern Sieglinde Jornitz und Felicitas Macgilchrist im ersten Beitrag Datafizierte Sichtbarkeiten und schulische Praxis Einblicke in die Mechanismen und Prozesse, die vor, auf und hinter der Bühne des digital unterstützen Unterrichts ablaufen. Ausgehend von Foucaults Überlegungen – Stichwort Panopticon – analysieren die Autorinnen die konkreten digitalen Anwendungen einer Lehrerin. Darüber hinaus zeigen sie auf, welche digitalen Player auf den diversen Clouds der unsichtbaren Hinterbühne mitspielen.
In ihrem Essay Dorothy und die Zauberer der Digitaltechnik legen die beiden Informatiker David Haselberger und Fares Kayali ihre Überlegungen zu einer kritischen Didaktik digitaler Bildung dar. Ihre Absicht ist es, die Scheu, die viele von uns beim Stichwort „Digitalisierung“ befällt, zu entzaubern, also die naturwissenschaftlichtechnische Grundlage als hinterfragbar darzulegen.
Käte Meyer-Drawe zieht in ihrem Essay Im Verborgenen lernen: Künstliche Intelligenz Parallelen zwischen der „epistemischen Opazität“, also der Nicht-Durchschaubarkeit, von KI und der Erkenntnis, dass Lernen grundsätzlich im Verborgenen stattfindet. Ihre Thesen lösten bei den Redaktionssitzungen Diskussionen aus, die wir gerne weiterführen würden. Dazu laden wir alle Leser:innen ein. Bitte schicken Sie uns Ihre Beiträge per Mail an kontakt@schulheft.at. Wir werden auf unserer Homepage www.schulheft.at ein Diskussionsforum einrichten, in dem wir uns zugesandte Beiträge veröffentlichen.
Sozusagen die Kehrseite des Verborgenen, nämlich die Allmachtsphantasien, beleuchten Juliana Rossi Duci, Lutz A. Calmon, Nabuco Lastoria und Joao Mauro de Carvalho in ihrer Analyse des Webauftritts der Lernplattform Moodle: Eine Phantasie der Allmacht. Ziel ihrer Analyse ist es, die dargestellte Ermächtigung des Subjekts als leer und im Endeffekt als Verherrlichung neoliberaler Entwürfe vom Individuum zu entlarven.
Um Ermächtigung bzw. Machtverhältnisse geht es auch im ersten Beitrag im Abschnitt Politische Aspekte. In ihrer Studie zur Universitären Online-Lehre: Machtverschiebungen und neue Disziplinierungsräume legen Katarina Froebus und Daniela Holzer dar, welche Veränderungen die unfreiwillige Verlegung der Lehre in den virtuellen Raum mit sich gebracht haben, und versuchen eine erste kritische Einschätzung.
Inken Heldt wendet sich in ihrem Beitrag Mehr als Fake News, Facebook und Filterblasen: Politische Bildung in einer von Digitalität geprägten Welt gegen die weitverbreitete Sprachregelung und Gegenüberstellung von „digitaler“ und „analoger“ Bildung. Sie präsentiert eine systematische Darstellung des Lernens „mit“ und „über“ digitale Medien und diskutiert die Implikationen für die Politische Bildung.
Ein geplanter dritter Artikel über feministische Aspekte der Digitalisierungsproblematik ist leider nicht zustande gekommen.
Dem Abschnitt Fokus Schule haben wir fünf Beiträge zugeordnet. Dazu gehört der Aufsatz Vom Schmuddelheft zum Schmuddelvideo. Vorstellungen von Lehramtsstudent:innen über das Internet, in dem Gesine Kulcke ausgehend von Ergebnissen aus ihrem Dissertationsprojekt eine Ausdifferenzierung der vorschnellen Annahme präsentiert, (angehende) Lehrkräfte würden das Potenzial digitaler Medien für den Grundschulunterricht nicht erkennen, weil sie diese auf Lehr- und Lernwerkzeuge reduzierten und trotz aktueller Digitalisierungsprozesse in ihrem Unterricht weiterhin von einer Buchkultur ausgingen.
Der Beitrag mit dem Titel Wie wirken datengetriebene Lernplattformen? Das Beispiel «Antolin» von Annina Förschler, Sigrid Hartong, Anouschka Kramer, Claudia Meister-Scheytt und Jaromir Junne beschreibt die Analyse des Leseförderprogramms Antolin, mit der die Autor:innen die Regulierung von Bildung, Praktiken und Beziehungen durch ein von Daten und Algorithmen geprägtes Gesamtgefüge herausarbeiten.
Heike Deckert-Peaceman und Gerold Scholz nennen ihren Aufsatz Click and Drop. Über schulisches Wissen am Beispiel der Lernplattform Anton. Sie beschreiben die Nutzung der App, um das in dieser für den Sachunterricht aufbereitete Thema Wasser mit der Aufbereitung in verschiedenen Schulbüchern aus den vergangenen 20 Jahren vergleichen zu können. Dabei wird deutlich, dass das digital hervorgebrachte didaktische Konzept von Anton eingebunden ist in eine Entwicklung, die sich bereits in analogen Schulmaterialien abzeichnet.
In Die Rede über Erklärvideos: Von der Exklusion des lernenden Subjekts verweisen Lydia Brack und Gesine Kulcke darauf, dass „Bildung als eine soziale Praxis verstanden werden muss, die auf den Anderen als Bedingung für ein responsives Antwortverhalten angewiesen ist“ (Schröder 2021, 98). Sie leiten daraus die von ihnen diskursanalytisch
bearbeitete Frage ab, welche Interaktionsmöglichkeiten zwischen Lehrkraft und Schüler:innen in aktuellen pädagogischen und fachdidaktischen Texten über Erklärvideos hervorgebracht werden.
Eva Neureiter nimmt als Radiomacherin und Lehrerin die Fachtagung Freie Medien und Bildungsarbeit zum Anlass, Freie Radios, den Schülerradiotag und die zunehmende Popularität von Podcasts in ihrer Bedeutung für die Umsetzung des neuen Lehrplans für Digitalisierung zu präsentieren.
Literatur
Schröder, S. (2021). Die Vermessung des Lernens. Objektivierung und Subjektivierung in digitalen Lernplattformen. In: Pädagogische Korrespondenz, 63 (1). 85–110.
Autor*innen dieser Ausgabe
Redaktion
Tobias Becker
Florian Jilek-Bergmaier
Gesine Kulcke
Eva Neureiter
Michael Sertl
Tobias Becker, Volksschullehrer in Wien.
Lydia Brack, Erziehungswissenschaftlerin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Forschungsschwerpunkte: Professionalisierung, Subjektivierung, Bildung und Digitalität.
João Mauro Gomes Vieira de Carvalho, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe „Teoria Crítica: tecnologia, cultura e formação“, São Paulo State University (Unesp), School of Humanities and Sciences, Araraquara.
Heike Deckert- Peaceman, Professorin für Erziehungswissenschaft/Grundschulpädagogik und Kindheitsforschung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Arbeitsgebiete: Grundschulpädagogik, Curriculum Studies, Kindheitsforschung, Holocaust Education.
Juliana Rossi Duci, Dozentin für Pädagogik an der Faculdade SESI de Educação, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centro de Educação e Ciências Humanas, Universidade Federal de São Carlos (UFSCar), Forschungsgruppe „Teoria Crítica e Educação“.
Annina Förschler, Doktorandin an der Professur für Soziologie, insb. Transformation von Governance in Bildung und Gesellschaft an der HSU Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Datafizierung und Digitalisierung von Bildung und Bildungsadministration, Policy Network Analysis.
Katarina Froebus war bis 2021 Universitätsassistentin am Institut für Bildungsforschung und PädagogInnenbildung der Universität Graz. Sie arbeitet zu ungleichheitssensibler Professionalisierung, kritischer Bildungstheorie nach der Subjektkritik sowie Kollektiver Erinnerungsarbeit und biographisch-reflexiven Zugängen zu Bildungsungleichheit.
Sigrid Hartong, Prof. für Soziologie, insb. Transformation von Governance in Bildung und Gesellschaft an der HSU Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Datafizierung und Digitalisierung von Bildung und Gesellschaft, algorithmische Steuerung, international vergleichende Forschung.
David Haselberger unterrichtet Software Engineering am Technologischen Gewerbemuseum Wien. An der Universität Wien gestaltet er als externer Lektor Diskursräume zu sozialen Aspekten der Informatik.
Inken Heldt lehrt und forscht als Juniorprofessorin mit den Schwerpunkten Diskriminierungs-kritik und Menschenrechte, Digitalisierung und internationale Dimensionen der Politischen Bildung an der Universität in Kaiserslautern und hatte 2019–2020 eine Gastprofessur für Digital Citizenship Education an der Universität Wien inne.
Daniela Holzer ist Assoziierte Professorin im Arbeitsbereich Erwachsenen- und Weiterbildung am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz. Ihre Forschungen richten einen kritischen Blick auf Erziehungswissenschaft und Erwachsenenbildung in aktuellen Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnissen.
Florian Jilek-Bergmaier ist Lehrer an einer Mittelschule in Wien und schulheft-Mitherausgeber.
Sieglinde Jornitz arbeitet als Erziehungswissenschaftlerin am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt/Main. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf internationalen Reformmaßnahmen und ihren Auswirkungen auf die Schulpädagogik in Deutschland.
Jaromir Junne, Institut für Controlling und Unternehmensrechnung an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, forscht zur Steuerung von Digitalisierungsprozesse in öffentlichen und gemeinnützigen Organisationen.
Fares Kayali ist Professor für Digitalisierung im Bildungsbereich und Gründer des Computational Empowerment Labs am Zentrum für Lehrer:innenbildung der Universität Wien. Seine Forschung und Lehre finden im interdisziplinären Spannungsfeld zwischen Informatik, Didaktik und Gesellschaft statt. Dabei beschäftigt er sich unter anderem mit Nutzer:innen-zentriertem Design, kritischen Aspekten des digitalen Wandels und digitalen Spielen.
Gesine Kulcke, Institut für Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, forscht und lehrt zu Medien im Kontext von Grundschul- und Kindheitspädagogik.
Luiz A. Calmon Nabuco Lastória, Prof. für Sozial- und Erziehungspsychologie an der São Paulo State University (Unesp), School of Humanities and Sciences, Araraquara, Koordinator in der Forschungsgruppe „Teoria Crítica: tecnologia, cultura e formação“.
Felicitas Macgilchrist leitet die Forschungsabteilung „Mediale Transformationen“ am Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut. Sie forscht an der Schnittstelle von Medien und schulischer Bildung mit einem besonderen Fokus auf dem sozialen und politischen Kontext von Bildung in der digitalen Welt.
Claudia Meister-Scheytt, Institut für Personal und Arbeit an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, forscht zu Personalentwicklung und Governance in Bildungsorganisationen.
Käte Meyer-Drawe ist Univ.-Professorin i. R. für Allgemeine Pädagogik an der Ruhr-Universität Bochum und ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. https//orcid.org/0000-0003-4265-4590.
Eva Neureiter, Volksschullehrerin in Wien, Freinetpädagogin, Radiomacherin, regelmäßige Teilnehmerin der Fachtagung „Freie Medien und Bildung“.
Gerold Scholz, Prof. für Erziehungswissenschaft/Grundschulpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt/M. (i.R.). Arbeitsgebiete: Kindheitsforschung, Theorie der Didaktik des Sachunterrichts.
Michael Sertl, Prof. für Humanwissenschaften an der PH Wien (i.R.), ehemaliger Hauptschullehrer, Soziologe. Forschungsschwerpunkte: Schule und soziale Ungleichheit, soziologische Theorie der Schule und des Unterrichts.
Bestellen
Studienverlag: Schulheft 188
Theater.Pädagogik.Schule
Klappentext
Das vorliegende schulheft zeigt die Theaterpädagogik in einem vielfältigen Spektrum zwischen theoretischen Überlegungen und praktischer Umsetzung im Kontext Schule. Von der bildungswissenschaftlichen Verankerung des Fachs Theater in der Schule bis hin zu theaterpädagogischen Ansätzen und Arbeitsweisen wird in der vorliegenden Publikation die Relevanz theaterpädagogischer Arbeit deutlich gemacht.
Inhalt
Einleitung
Theater.Pädagogik.Theorie
Ute Pinkert
Überlegungen zum aktuellen Bildungsverständnis in der Theaterpädagogik
Gregor Ruttner-Vicht
Theaterpädagogik als Schule des Lebens
Birgit Fritz
Theater zwischen Therapie und Pädagogik
Die Freude am Spiel als heilsames Erleben – eine Hinführung
Theater.Fach.Schule
Julia Köhler
Wer hat Angst vor dem Fach Theater?
Ole Hruschka
Zur Qualifikation von Theaterlehrenden (in Deutschland)
Bestandsaufnahme und Ausblick
Stephan Engelhardt
Theater als Auftrag
Theater.Pädagogik.Improvisation
Alexander Hoffelner
Improvisationstheater und Bildung
Das Bildungspotenzial der Ansätze von Viola Spolin, Keith Johnstone und Augusto Boal
Alice Mortsch
„Slow Improv“
Die Bedeutung von Langsamkeit, Achtsamkeit und Flow im Improvisationstheater
Gunter Lösel
Die Kunst, das Script zu zerreißen
Improvisationstheater in der Lehrer:innenausbildung
Theater.Pädagogik.Projekte
Stephanie Frühwirt
„Nur im Spiel“ – Theaterspiel in der Elementarpädagogik
Katharina Siebert
Wenn Worte meine Sprache wär’n
(oder: Wie man durch Dramapädagogik reich wird)
Marion Seidl-Hofbauer
Die Jeux Dramatiques und der Staatspreis für innovative Schulen
Eine coole Schule und die Jeux Dramatiques
Nathalie Fratini
Projet Apprentissage sur scène
Lernen anhand der Konzeption von Theaterproduktionen
Bernadette de Martin & Christian Martinsich
Erfahrungsräume öffnen, Lernen leben, Haltung zeigen mit eSPRiT
Autor*innen dieser Ausgabe
Einleitung
Theaterpädagogik ist spätestens seit den 1980er Jahren im deutschsprachigen Raum ein etablierter Begriff (vgl. Streisand 2012, 14). Sie stellt eine besondere Form der künstlerischästhetischen Auseinandersetzung im Kontext pädagogischer Settings dar. Das Wort selbst verbindet im Prinzip zwei Disziplinen, die hier zusammengeführt werden, nämlich das Theater und die Pädagogik. Die Theaterpädagogik könnte somit sowohl Pädagogik des Theaters als auch auf das Theatrale fokussierte Pädagogik sein (vgl. Vaßen 2012, 53). In den letzten Jahrzehnten hat sie sich innerhalb kultureller Institutionen wie Theater und Museen sowohl im internationalen wie auch im nationalen Umfeld etabliert. Auch in schulischen und hochschulischen Kontexten werden vermehrt theatrale Arbeitsweisen und deren Wirkungen auf Lehrund Lernprozesse erforscht und praktiziert. Theaterpädagogische Arbeitsweisen auch in der Schule bzw. in der Ausbildung von Lehrer:innen (vgl. Köhler 2017; Köhler & Hoffelner 2022) einzusetzen, kann dabei großes Potenzial bergen.
Im Unterschied zu den in Schulen strukturell relativ gefestigten musischen und bildenden Künsten, scheint ein großer „Aufholbedarf“ im Kontext der Theaterpädagogik gegeben, dem die derzeitige schulpolitische bzw. hochschulpolitische Lage in Österreich wenig Beachtung schenkt. Obwohl es nach wie vor nicht einfach ist, die Transfereffekte theatraler Arbeit belastbar zu erforschen, halten theaterpädagogische Arbeitsweisen respektive das Fach Theater in der Schule, so die These der Redakteur:innen, ein hohes Potenzial an Lehr- und Lernmöglichkeiten bereit, die zur Nachhaltigkeit von Wissensbeständen beitragen und kreative Potenziale fördern können. Die Theaterpädagogik integriert „als ‚unreine‘ Kunstform Sprache, Musik, bildende Kunst, Video, Medien, Sport, Tanz etc. Die damit verbundene inhaltliche und kulturelle Komplexität und genuine Interdisziplinarität“ (Liebau 2009, 58) ermöglicht wie kein anderer Zugang im ästhetischen und pädagogischen Umfeld sowohl in den einzelnen Unterrichtsfächern als auch fächerübergreifend und vor allem als eigenes Unterrichtsfach mannigfache Lehr- und Lernprozesse.
Das vorliegende schulheft zeigt demgemäß ein Spektrum von theoretischen Grundlagen bis hin zu praktischen Arbeitsweisen im Feld der Theaterpädagogik. Die Publikation ist in vier Themenfelder gegliedert: (1) Theater.Pädagogik.Theorie (2) Theater.Fach.Schule (3) Theater.Pädagogik.Improvisation (4) Theater.Pädagogik.Projekte.
Theater.Pädagogik.Theorie Im ersten Beitrag wirft Ute Pinkert einen differenzierten Blick auf die bildungswissenschaftliche Verankerung der Theaterpädagogik und plädiert für einen fachlich fundierten Diskurs. Die fachwissenschaftliche Richtung, so die Autorin, denkt Theater in der Schule von den Bedingungen der Kunstform Theater und deren Einbettung in gesellschaftliche Zusammenhänge aus. Sie wendet sich gegen eine „Komplexitätsreduktion“ der Kunstform im Unterricht, die mit einer Reduzierung von Verfahren der darstellenden Künste auf sogenannte „ästhetische Mittel“ einhergeht. Gregor Ruttner-Vicht skizziert in seinem Artikel anhand der skills for the 21st century die Möglichkeiten theaterpädagogischer Arbeit im außerschulischen Bereich. Birgit Fritz gibt in ihrem Text einen Einblick in therapeutische Arbeitsweisen, die sich der theatralen Arbeit verschrieben haben. Sie thematisiert dabei nicht nur die Entstehung von Theatertherapien, sondern widmet sich auch der Frage, inwieweit theaterpädagogische und theatertherapeutische Ansätze abzugrenzen wären. Ein weiterer Artikel mit dem Titel „Die Möglichkeit den Habitus mit dem Theater der Unterdrückten zu verändern“ ist von Thomas Stölner auf unserer Homepage www.schulheft.at zu finden.
Theater.Fach.Schule Julia Köhler stellt zunächst die grundsätzliche Frage, warum das Fach Theater in den heimischen Lehrplänen nicht verankert ist und eröffnet somit das Themenfeld. Ole Hruschka diskutiert in seinem Beitrag die Möglichkeiten des Fachs Theater und die damit verbundenen Qualifikationen der Lehrer:innen, die dieses Fach unterrichten. Auch in Deutschland ist es so, dass die meisten Theatervermittler:innen an den Schulen eher mittels Fortbildungen, Weiterbildungsmaßnahmen oder einem Ergänzungs- bzw. Aufbaustudium das Fach Theater unterrichten, ein Umstand, der wohl in keinem anderen Fach so denkbar wäre, so Hruschka. Beispielhaft beschreibt der Autor anhand des niedersächsischen Kooperationsstudiengangs die Inhalte eines grundständigen Studienganges, mit denen angehende Theaterlehrer:innen konfrontiert werden und vertritt die These, dass theaterpädagogische Studiengänge als „Indikator und Motor von Professionalisierungsprozessen” (Wartemann 2018, 132) fungieren müssen. Stephan Engelhardt nimmt das Theater in der Schule als eine Ressource für den Erhalt der psychischen Gesundheit von Jugendlichen wahr. In seinem Beitrag beschreibt er die besonderen didaktischen und pädagogischen Möglichkeiten des Fachs Theater anhand eines konkreten Beispiels in einer gymnasialen Oberstufe.
Theater.Pädagogik.Improvisation Ein eigener Schwerpunkt des Buches liegt auf dem Improvisationstheater und seinem Potenzial für Bildungsprozesse. Alexander Hoffelner macht dabei allgemein das Thema der Improvisation in Bildungsprozessen auf, klärt einführend Begriffe und zeigt danach anhand von drei der populärsten Vertreter:innen (Viola Spolin, Keith Johnstone und Augusto Boal) das Bildungspotenzial, das diese selbst in ihren Ansätzen sahen. Im Anschluss daran plädiert Alice Mortsch für eine Entschleunigung in unserer ohnehin sehr schnelllebigen Zeit. Unter dem Motto Slow Impro möchte sie eine Herangehensweise an das Improvisationstheater zeigen, die – ähnlich dem Prinzip Slow Food – zu mehr Achtsamkeit, Ruhe und Fokus führen kann. Gunter Lösel fokussiert die Arbeit von Lehrer:innen in der Schule unter dem Blickwinkel der Improvisation. Er beschreibt dabei die Kunst, das Script zu zerreißen und skizziert pädagogisches Handeln als primär improvisatorisches Handeln.
Theater.Pädagogik.Projekte Stephanie Frühwirt weist in ihrem Beitrag auf die Relevanz theaterpädagogischer Arbeit im elementarpädagogischen Bereich hin und macht auf mangelnde Möglichkeiten aufmerksam. Katharina Siebert lässt sich in ihrem Beitrag von Tim Bendzkos „Wenn Worte meine Sprache wären“ inspirieren und widmet sich der theaterpädagogischen Umsetzung von Kinderliteratur in der Primarstufe. In Anlehnung an das Buch „Die große Wörterfabrik“ (de Lestrade & Docampo 2010) zeigt sie die potenzielle Einbindung eines vielfältigen dramapädagogischen Repertoires an einem konkreten Beispiel für den Unterricht auf. Marion Seidl-Hofbauer beschreibt in ihrem Beitrag Arbeitsweisen der Jeux Dramatiques im Zuge eines mehrjährigen Projekts in einer Volksschule in der Steiermark, die 2021 für den Staatspreis Innovative Schulen nominiert wurde. Nathalie Fratini behandelt in ihrem Text das Projekt PASS Projet Apprentissage sur scène, das in Luxemburg durchgeführt wurde. Ziel des Projekts war es, mittels theaterpädagogischer Methoden schulische Kompetenzen zu fördern. Die Autorin beschreibt das Projekt mit all seinen Möglichkeiten und auch Grenzen u. a. im Rahmen der in Luxemburg vorherrschenden Sprachvielfalt in den Schulen. Bernadette de Martin und Christian Martinsich stellen das Projekt eSPRiT vor, das seit September 2019 in der Sekundarstufe I an einem Wiener Gymnasium realisiert wird. Das Projekt verfolgt das Ziel, Jugendliche mittels theater- und musikpädagogischer Elemente für die heutige Welt und ihre Herausforderungen fit zu machen.
Das vorliegende schulheft zeigt damit ein Spektrum unterschiedlicher Ansätze im Feld der Theaterpädagogik, die sich aus theoretischen Überlegungen und praktischen Ansätzen speisen. Mit Florian Vaßen können Theaterpädagog:innen als Kartograph:innen verstanden werden, „die das scheinbar bekannte, aber doch immer wieder unbekannte, unerforschte, ungewisse Terrain des Theaters begehen, sichten und ,vermessen‘. Dabei werden Fremdes und Befremdliches
ebenso sichtbar wie Alltägliches und Altbekanntes, Differenzen und Potenzialitäten, Wiederholungen und Variationen, Spiel und Wirklichkeit.“ (Vaßen 2012, 61) In diesem Sinne kann auch dieses Buch gelesen werden, als Beschäftigung mit dem Vertrauten, das gleichwohl unvertraut ist, mit dem Bekannten, das gleichwohl unbekannt ist, und mit dem Alten, das uns auch als Neues und potenziell Anderes erscheinen darf.
Literatur
de Lestrade, Agnès; Docampo, Valeria (2010): Die große Wörterfabrik (3. Aufl.). München: Mixtvision.
Jahnke, Manfred (2012): Skizze einer Vorgeschichte der Theaterpädagogik vom 10. Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. In: Nix, Christoph; Sachser, Dieter; Streisand, Marianne (Hg.): Lektionen 5. Theaterpädagogik. Berlin: Theater der Zeit, 36–44.
Köhler, Julia (2017): Theatrale Wege in der Lehrer/innenbildung. Theaterpädagogische Theorie und Praxis in der Ausbildung von Lehramtsstudierenden. München: kopaed.
Köhler, Julia; Hoffelner, Alexander (2022): Macht – Theater – Angst: Von Sinn und Möglichkeit theaterpädagogischer Arbeit. In: schulheft 185, 134–145.
Liebau, Eckart (2009): Theatrale Bildung. Produktions- und rezeptionsästhetische Perspektiven der darstellenden Künste. In: Schneider, Wolfgang
(Hrsg.): Theater und Schule. Ein Handbuch zur kulturellen Bildung. Bielefeld: transcript Verlag, 53–64.
Pinkert, Ute; Driemel, Ina; Kup, Johannes; Schüler, Eliana (2021): Positionen und Perspektiven der Theaterpädagogik. Milow: Schibri Verlag.
Streisand, Marianne (2012): Geschichte der Theaterpädagogik im 20. und 21. Jahrhundert. In: Nix, Christoph; Sachser, Dieter; Streisand, Marianne (Hg.): Lektionen 5. Theaterpädagogik. Berlin: Theater der Zeit, 14–35.
Vaßen, Florian (2012): Theater ± Pädagogik. Korrespondenzen von Theater und (Theater-)Pädagogik. In: Nix, Christoph; Sachser, Dieter; Streisand,
Marianne (Hg.): Lektionen 5. Theaterpädagogik. Berlin: Theater der Zeit, 53–63.
Wartemann, Geesche (2018): Abgrenzungen und Anpassungen. Eine professionsgeschichtliche Skizze der Theaterpädagogik am Theater. In: Roselt, Jens; Krankenhagen, Stefan (Hg.): De-/Professionalisierung in den Künsten und Medien. Formen, Figuren und Verfahren einer Kultur des
Selbermachens. Berlin: Kadmos, 126–140.
Autor*innen dieser Ausgabe
Redaktion
Alexander Hoffelner
Julia Köhler
Bernadette de Martin, Mag., MA, Lehramtsstudium Deutsch und Psychologie/Philosophie sowie Ethik an der Universität Wien; Unterrichtstätigkeit Deutsch als Fremdsprache in Exeter (UK); Masterlehrgang für Theaterpädagogik. Im Rahmen der Unterrichtstätigkeit am GRg3 Hagenmüllergasse Leitung der Unverbindlichen Übung Darstellendes Spiel; Mitinitiatorin des Schwerpunkts eSPRiT; Mitbegründung des Jugendtheatervereins Junge Bühne eSPRiT.
Stephan Engelhardt, Mag. Dr., Theaterpädagoge, Kunstpädagoge, Psychotherapeut für KIP in eigener Praxis, Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche. Kontakt: stephanengelhardt 1@gmail.com
Nathalie Fratini, Mag. Dr., promovierte Theaterwissenschaftlerin mit den Schwerpunkten Theaterpädagogik, kulturelle Bildung und performative Unterrichtsmethoden. Mitarbeiterin im Bildungsministerium in Luxemburg im Bereich der Curriculumentwicklung sowie der Lehrer:innenbildung in Bezug auf die Berufsausbildung. Lehraufträge an den Universitäten Wien und Luxemburg, der Hochschule Mannheim sowie dem Nationalen Institut für Bildung in Luxemburg.
Birgit Fritz, Dr., Theaterpädagogik und Theatertherapeutin. Dozentin für transformative Theaterarbeit in sozialen Feldern an der FH Würzburg- Schweinfurt, Autorin von InExActArt – Ein Handbuch zur Praxis des Theaters der Unterdrückten und Von Revolution zu Autopoiese. Auf den Spuren Augusto Boals ins 21. Jahrhundert. Das Theater der Unterdrückten im Kontext von Friedensarbeit und einer Ästhetik der Wahrnehmung. Mitgründerin der Österreichischen Gesellschaft für Drama- und Theatertherapie. http://www.oegdtt.at
Stephanie Frühwirt, Mag., Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, seit 2008 Leitung diverser theaterpädagogischer Projekte im Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbereich, Nachmittagspädagogin im Kindergarten, Kursleiterin an der Volkshochschule, Mitarbeiterin im Regieteam das SchauSpielWerk, Wien.
Alexander Hoffelner, Mag. BA BA, Bachelorstudium Geschichte und Bildungswissenschaft, Lehramtsstudium Geschichte und Politische Bildung sowie Geografie und Wirtschaft, Universitätsassistent (prae doc) am Zentrum für Lehrer*innenbildung der Universität Wien mit den Forschungsschwerpunkten Theaterpädagogik, Pädagogische Professionalität und Improvisation, BHS-Lehrer für Gesellschafts- und künstlerische Fächer in Wien, Lehrer für Improvisation an der Performing Academy, Universitätslektor an der Akademie der Bildenden Künste und Referent in der Lehrer:innenfortbildung; freischaffender Schauspieler und Sprecher, Theaterpädagoge. alexander.hoffelner@univie.ac.at
Ole Hruschka, PD Dr., leitet seit 2009 das Studienfach Darstellendes Spiel an der Leibniz Universität Hannover. Im Jahr 2021 wurde ihm durch die Philosophische Fakultät die Lehrbefugnis (venia legendi) für das Fachgebiet „Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Theaterpädagogik” verliehen. Er ist Vorsitzender der „Gesellschaft für Theaterpädagogik Nds. e.V.” und Jury-Mitglied für das Festival Freier Theater „Best OFF” der Stiftung Niedersachsen. Zahlreiche Publikationen u.a. als Mitherausgeber der „Zeitschrift für Theaterpädagogik”. „Theater machen. Eine Einführung in die theaterpädagogische Praxis”, Das mit Julian Mende herausgegebene Lehrwerk für die Oberstufe „Theater – Epochen und Verfahren” (Westermann Verlag) wurde als „Schulbuch des Jahres 2022” ausgezeichnet. www.darstellendesspiel.uni-hannover.de
Julia Köhler, Mag. Dr., Senior Lecturer am Zentrum für Lehrer*innenbildung, Universität Wien; Lektorin an der Akademie der bildenden Künste,Wien; Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Theaterpädagogik, Kulturelle Bildung. Kontakt: julia.koehler@univie.ac.at
Gunter Lösel, Dr., leitet den Forschungsschwerpunkt Performative Praxis an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHDK). Nach einem Studium der Psychologie hat er in Theaterwissenschaft über das Thema Improvisation promoviert und hierzu mehrere Bücher veröffentlicht. Seine Forschungsthemen sind Interaktivität und kollaborative Kreativität im Theater, sowie Publikationsformen künstlerischer Forschung. Er ist bis heute als Improvisationsspieler und Workshopleiter eng mit der Praxis verbunden und hat kürzlich mit KISS eine zweijährige Ausbildung in Improvisation, Spontanität und Schauspiel ins Leben gerufen. https://www.gunterloesel.theater
Christian Martinsich, Mag., Lehramtsstudium Musikerziehung und Mathematik; Mentor im Bereich der Lehramtsausbildung an der Universität für Musik und darstellende Kunst; R.I.T.M.O.-Ausbildung. Im Rahmen der Unterrichtstätigkeit am GRg3 Hagenmüllergasse Leitung diverser Instrumentalensembles (Unverbindliche Übung Spielmusik). Mitinitiator des Schwerpunkts eSPRiT; Mitbegründung des Jugendtheatervereins Junge Bühne eSPRiT.
Alice Mortsch, Mag., Schauspielerin, Regisseurin, Trainerin und Phantasieliebhaberin aus Wien. Schauspielstudium an der Schauspielschule Krauss, Studium der Bildungswissenschaft (Universität Wien) und Kulturmanagement (Universität für Angewandte Kunst). Spielt und inszeniert seit 2004 an renommierten Häusern und in der freien Szene im deutschsprachigen Raum. Künstlerische Leitung des „Sommertheaterfestivals Teichfestspiele“ in der Steiermark. Dozentin an der Schauspielschule Wien, Universität Wien, Performing Arts Studios, Sommerakademie Zakynthos und bei Styrian Summer Art. www.alicemortsch.com
Gregor Ruttner-Vicht, MA MSc, Theater- und Freizeitpädagoge, Coach sowie Personal- und Organisationsentwickler, Vorstand der BeyondBühne in Österreich. https://beyondbuehne.at
Ute Schlegel-Pinkert, Dr. Prof., Germanistik- und Theaterwissenschaftsstudium, Dramaturgin und Theaterpädagogin, seit 2007 Professorin für Theaterpädagogik an der Universität der Künste Berlin. Sie publiziert unter dem Namen Ute Pinkert.
Marion Seidl-Hofbauer, Behindertenpädagogin, Spieltherapeutin und Förderdiagnostikerin, Autorin, Ausbilderin der Arbeitsgemeinschaft Jeux Dramatiques Deutschland, leitet und organisiert seit 1992 die Ausbildung in Jeux Dramatiques Österreich. Seit 1988 arbeitet sie mit den Jeux Dramatiques in Schulklassen. https://www.arge-jeux-dramatiques.at
Katharina Siebert, Mag., Diplompädagogin, Lehramt für Volksschule und SES, Mediatorin, Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Leitung von Schwerpunktklassen Darstellendes Spiel, derzeit Tätigkeit als Beratungslehrerin (Volksschule, Sek.I), Referentin in der Lehrer:innenfortbildung.
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Studienverlag: Schulheft 187
Weitere Beiträge
Thomas Stölner
Die Möglichkeit den Habitus mit dem Theater
der Unterdrückten zu verändern
Augusto Boal trifft Pierre Bourdieu
Stölner_Thomas_Die Möglichkeit den Habitus mit dem Theater der Unterdrückten zu verändern
Imperiale Lebensweise und Bildung
Klappentext
Von der imperialen zur solidarischen Lebensweise! So bestechend einfach könnte ein Programm zur Lösung aller Probleme aussehen. Dass es nicht ganz so simpel ist, haben Ulrich Brand und Markus Wissen mit dem vieldiskutierten Konzept „Imperiale Lebensweise" dargelegt. Das vorliegende schulheft zeichnet die Auseinandersetzungen um dieses Konzept nach, stellt exemplarisch einige Beispiele vor und liefert Beiträge aus dem Bildungsbereich.
Inhalt
Editorial
I. Diskussion des Konzepts
Leo Xavier Gabriel
Was ist die Imperiale Lebensweise?
Eine konzeptuelle Darstellung
Ulrich Brand und Markus Wissen
Die Linke und die Imperiale Lebensweise
Stefanie Hürtgen
Das nördliche »Wir« gibt es nicht
Ulrich Brand, Markus Wissen
Zum Gebrauchswert des Begriffs
Christa Wichterich
Covid-19, Care und Kipppunkte imperialer Lebensweise
II. Aspekte der imperialen Lebensweise
Jutta Matysek
Lobau-Autobahn & Co: Das drohende Autobahngeschwür und seine Metastasen
Gerlind Weber
Verschandelt! Verschleudert! Verbaut! – Schluss mit dem Bodenfraß!
Marcus Fischer
Das ganze Grünland ein Scheißhaus
Katharina Ritter
Lerne den Kapitalismus fürchten: Das Monopoly
Josef Baum
… ohne es zu merken
Die unterschätzte Bedeutung der Werbung ab den Kindesjahren
Lorenz Glatz
Gutes Essen für alle – aber wie?
III. Imperiale Lebensweise und Bildung
Julia Koll
„Ich bin halt so in diesen Klimawandel reingeboren“
Jugendarbeit in der Klimakrise
Lilly Panholzer
Von Sturmmasken und anderen Verpflichtungen
Malte Kleinschmidt
Dekolonialität und Kritik der imperialen Lebensweise
Überlegungen zur politischen Bildung
Josef Mühlbauer
Herrschaftskritische Pädagogik und Schulkritik
Eine (queer-)anarchistische Antwort auf die imperiale Lebensweise
Vera Besse
KAUZ – Werkstatt für Klima, Arbeit und Zukunft
Michael Sertl
Was ist im Schulunterricht brauchbar?
Kurzrezensionen
Autor*innen dieser Ausgabe
Editorial
Mit dieser Nummer setzen wir die Auseinandersetzung fort, die wir mit der Klima-Nummer „Unser Haus brennt!“ (SH 178) begonnen haben und die uns wohl noch länger beschäftigen wird. Ausgangspunkt ist diesmal das von Ulrich Brand und Markus Wissen entwickelte Konzept der Imperialen Lebensweise (IL)1, das bei Erscheinen des Buches 2017 offensichtlich einen Nerv getroffen hat. Besonders innerhalb der Linken hat damit eine recht lebendige Diskussion begonnen, die wir hier – im Rahmen unserer Möglichkeiten – dokumentieren wollen. Als schulheft sehen wir uns natürlich verpflichtet, die Möglichkeiten und Anregungen, die das Konzept IL anbietet, für den schulischen Unterricht und die Politische Bildung zu prüfen.
Das Reizvolle an diesem Konzept ist, dass es sozusagen zwei Seiten hat: das kritische Analyseinstrument Imperiale Lebensweise auf der einen Seite und das politisch-aktivierende Gegenkonzept der solidarischen Lebensweise auf der anderen Seite. Oder mit anderen Worten: Auf der einen Seite kritisiert IL das „Leben auf Kosten anderer bzw. der Natur“, auf der anderen Seite geht es um das „gute Leben für alle“. Dabei haben wir versucht, dieses Doppelgesicht auch in einer größeren Bandbreite an Textsorten zu repräsentieren als „bloß“ in wissenschaftlichen Texten. Besonders erfolgreich waren wir da nicht, aber zweifellos liefern die Texte von Aktivist:innen wie Jutta Matysek, Lorenz Glatz und Lilly Panholzer eine andere als die rein wissenschaftliche Perspektive. Richtig literarisch wird der Ton dann bei Marcus Fischer, dessen Text wir auch etwas anders layoutiert haben.
Das Heft ist in drei Teile gegliedert: 1. Diskussion des Konzepts, 2. Aspekte der imperialen Lebensweise und 3. Imperiale Lebensweise und Bildung.
Der erste Teil zur Diskussion des Konzepts Imperiale Lebensweise besteht aus fünf theoretisch-analytischen Beiträgen.
Der Beitrag von Leo Xavier Gabriel „Was ist die Imperiale Lebensweise?“ stellt eine einleitende Begriffserklärung dar. Hierbei werden Hauptelemente und die dahinterstehende Anwendungslogik der Imperialen Lebensweise erklärt. Eine Grafik, die inzwischen in vielen Varianten kursiert, veranschaulicht diese Zusammenhänge.
Das Konzept der IL ist nicht widerspruchsfrei und wurde aus verschiedenen Perspektiven diskutiert. Eine prägnante Zusammenfassung dieser Diskussionen und der daraus sich ergebenden Weiterentwicklungen liefert das Vorwort der englischsprachigen Fassung des Buches „The Imperial Mode of Living“ (2021), das wir übersetzt haben und hier mit dem Titel „Die Linke und die Imperiale Lebensweise“ abdrucken. Brand und Wissen erörtern überblicksartig die diversen Kritiken zum Konzept IL (z. B. unklarer Klassenstandpunkt, feministische Kritik, …).
In ihrem Beitrag „Das nördliche ‚Wir‘ gibt es nicht“ geht Stefanie Hürtgen auf die wiederholt vorgetragene Kritik eines unklaren Klassenstandpunkts ein und argumentiert, dass die Vorstellung eines einheitlichen globalen Nordens falsch ist. Vielmehr sollte die Analyse von einer fragmentierten Gesellschaft ausgehen, in der die Subjekte durchaus die IL in Frage stellen.
Warum Ulrich Brand und Markus Wissen die Begrifflichkeit gerade so gewählt haben, wie sie es getan haben, stellen sie in dem kurzen Ausschnitt aus dem Original-Buch (2017) „Zum Gebrauchswert des Begriffs“ dar.
Schließlich ergänzt Christa Wichterich das Konzept der IL mit einer feministischen Kritik und zeigt die Verbindungen von sozialer Reproduktion sowie Sorgearbeit mit der imperialen Lebensweise. Mit dem Beitrag „Covid-19, Care und Kipppunkte imperialer Lebensweise“ zeigt Wichterich, wie die imperiale Lebensweise durch die Ausbeutung der Sorgearbeit stabilisiert wird und wie die Pandemie die Dilemmata erneut aufgezeigt bzw. verschärft hat.
Im zweiten Teil Aspekte der imperialen Lebensweise illustrieren wir das Konzept anhand ausgewählter Analysen zum Thema Bodenfraß,
Werbung und solidarische Landwirtschaft. Den Beginn macht Jutta Matysek mit ihrem Hintergrundbericht zum Kampf gegen die Lobau-Autobahn. Möglicherweise ist dieser Kampf zum Zeitpunkt der Drucklegung nicht mehr in den Schlagzeilen, aktuell ist er ganz sicher noch. Und er liefert ein Beispiel, wie Bodenversiegelung und ein ziemlich ungebrochener Glaube an die Notwendigkeit einer „autogerechten Stadt“ die imperiale Lebensweise einzementieren. Der Aufsatz von Gerlind Weber „Verschandelt! Verschleudert! Verbaut! – Schluss mit dem Bodenfraß!“ stammt, ebenso wie die kurze Glosse von Katharina Ritter über das Brettspiel Monopoly, aus dem Katalog der Ausstellung des Architekturzentrums Wien „Boden für Alle“. Diese wirklich aufrüttelnde Ausstellung, die den leichtfertigen Umgang mit der Ressource Boden in all ihren – österreichischen! – Facetten dokumentiert (Stichwort: Grünland zu Bauland umwandeln? Kein Problem!), macht übrigens gerade ihre Tour durch die Bundesländer (vgl. www.azw.at/de/termin/boden-fuer-alle-23/).
Liefert der Text der Raumplanerin Gerlind Weber eine systematische Abrechnung mit dem Bodenfraß und formuliert notwendige Forderungen, so überträgt der Text von Marcus Fischer diese Anklage ins Literarische. Seine Suada „Das ganze Grünland ein Scheißhaus“ bringt geradezu Werner Schwab’sche Wucht in unser schulheft. Katharina Ritters kurze Glosse „Lerne den Kapitalismus lieben“ schildert, wie ein ursprünglich antikapitalistisch gedachtes Spiel schlussendlich „umgedreht“ wurde und als „Monopoly“ um die Welt ging. Da wird klar, was mit der hegemonialen Macht der imperialen Lebensweise gemeint ist. Diesen Mechanismen der kapitalistischen Subjektivierung widmet sich Josef Baum in seinem Essay „...ohne es zu merken. Die unterschätzte Bedeutung der Werbung ab den Kinderjahren“. In seinem Aufsatz „Gutes Essen für alle – aber wie?“ zeichnet Lorenz Glatz den Weg in die Sackgasse der industriellen Landwirtschaft nach und gibt einen Überblick über die österreichischen und internationalen Alternativen und Ansätze einer solidarischen Landwirtschaft.
Im dritten Teil Imperiale Lebensweise und Bildung liefern wir insgesamt vier Beiträge.
Julia Koll gewährt uns in ihrer Studie „Ich bin halt so in diesen Klimawandel reingeboren“ Einblicke, wie Jugendliche unterschiedlicher sozialer Herkunft die Themen Klimakrise, zivilgesellschaftliches Engagement, Mobilität und Ernährung diskutieren, und welche Stellung Schule und Jugendarbeit im Prozess der Bewusstmachung und der Aktivierung einnimmt.
Lilly Panholzer schildert in ihrem Bericht „Von Sturmmasken und anderen Verpflichtungen“ wie aus einem Ausstellungsbesuch mit einer Kunstvermittlerin ein politisches Umweltprojekt der Klasse wurde, und was sie als Lehrerin an den Diskussionen und Widerständen von Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern lernen konnte. Ein Weckruf an alle Lehrer*innen, den Auftrag zur politischen Bildung in Sachen Klimakrise ernst zu nehmen!
Malte Kleinschmidt zeigt in seinem Essay „Dekolonialität und Kritik der Imperialen Lebensweise“ die Problematik der Externalisierung und die Kolonialität der eigenen Lebensverhältnisse auf. Mit dem Begriff des „weiß-weißen Selbstgesprächs“ kritisiert er das Konzept der Imperialen Lebensweise und die Schieflage in der Diskussion der Ungleichheitsstrukturen zwischen denen, die davon betroffen sind, und jenen, die diese diskutieren.
Josef Mühlbauer beschäftigt sich mit „Herrschaftskritische(r) Pädagogik und Schulkritik“. Er greift die systemerhaltende Rolle der Schule auf und untersucht, welchen Beitrag sie zum Erlernen der imperialen Lebensweise leistet. Mit seiner Schulkritik stellt Mühlbauer Macht- und Herrschaftsverhältnisse radikal in Frage und macht sich auf die Suche nach Ansätzen für eine herrschaftskritische, (queer-)anarchistische Pädagogik, als Gegenbewegung zur imperialen Lebensweise.
Die Vorstellung des Projekts KAUZ – Werkstatt für Klima, Arbeit und Zukunft und Kurzrezensionen von Publikationen, die sich für den Unterrichtsbetrieb in Schule und Hochschule eignen, schließen die Nummer ab.
Viel Vergnügen beim Lesen!
Barbara Falkinger, Leo Xavier Gabriel, Michael Sertl
1 Wir verwenden in dieser schulheft Nummer die Großschreibung, also Imperiale Lebensweise (IL), immer dann, wenn inhaltlich auf das Konzept von Brand/Wissen bzw. auf das kritische Analysekonzept Bezug genommen wird. Bei deskriptiven Beschreibungen einer imperialen Lebensweise bleibt das Adjektiv klein geschrieben.
Autor*innen dieser Ausgabe
Redaktion
Barbara Falkinger
Leo Xavier Gabriel
Michael Sertl
Josef Baum, Ökonom und Geograf, Uni Wien. Schwerpunkte: Klima, Ökologie, Verteilung, Ökologische Ökonomie, China. Stadtrat in Purkersdorf, Obmann Verkehrs- und Regionalforum Waldviertel.
Vera Besse, Biologin, Erwachsenenbildnerin, Projektmanagerin und Vorausdenkerin; ist in ihrer Lohnarbeit bei akaryon tätig und sorgt für mehr Nachhaltigkeit in Unternehmen. Bei KAUZ – Werkstatt für Klima, Arbeit und Zukunft – erstellt sie im Team Bildungsmaterialien für die sozialökologische Transformation.
Ulrich Brand, Politikwissenschaftler, arbeitet an der Universität Wien und ist unter anderem Mitbegründer und Vorstandsmitglied von „Diskurs. Das Wissenschaftsnetz“, Arbeitsschwerpunkte: imperiale Lebensweise, internationale Umweltpoliitk, Lateinamerika und sozial-ökologische Transformation.
Barbara Falkinger, Schulleiterin einer Mittelschule in Wien, Mediatorin, Lehrerin für Englisch und Geografie und Wirtschaftskunde aus dem Blickwinkel des Globalen Lernens. Mitherausgeberin der Schulhefte.
Marcus Fischer, Schriftsteller, Werbetexter. Gewinner beim fm4 Kurzgeschichten-Wettbewerb „Wortlaut“. Zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, im Herbst 2022 erscheint sein erster Roman „Die Rotte“.
Leo Xavier Gabriel, Politikwissenschaftler und politischer Aktivist. Mitherausgeber des Sammelbands „Zur imperialen Lebensweise“ (Mandelbaum Verlag, 2022).
Lorenz Glatz, pensionierter Lehrer für Latein und Griechisch, Redakteur bei „Streifzüge. Magazinierte Transformationslust“, aktiv bei www.solawi.life, Mitglied bei den Solawi „gela Ochsenherz“ und „Ouvertura“, Autor von „Reisen zu verlorenen Nachbarn. Die Juden von Wiesmath“, Löcker 2017.
Stefanie Hürtgen, Wirtschaftsgeographin und Soziologin, associate professor an der Universität Salzburg und permanent fellow am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Sie war lange Zeit in der politischen Erwachsenenbildung tätig und ist gewähltes Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Rosa Luxemburg Stiftung und im wissenschaftlichen Beirat des Mattersburger Kreises für Entwicklungspolitik der Österreichischen Hochschulen.
Malte Kleinschmidt, lehrt und forscht im Institut für Didaktik der Demokratie und dem Center for Inclusive Citizenship an der Leibniz Universität Hannover. Seine Dissertation zum Thema „Dekoloniale politische Bildung. Eine empirische Untersuchung von Lernendenvorstellungen zum postkolonialen Erbe“ steht als OpenAccess zur Verfügung. Seine Themenschwerpunkte innerhalb der Fachdisziplin der politischen Bildung sind Dekolonialität, Rassismuskritik, Globalisierung und Citizenship Studies.
Julia Koll, studierte Sozialraumorientierte Soziale Arbeit, Internationale Entwicklung und Germanistik in Wien. Beruflich beschäftigt sie sich mit den Themen Migration, Zusammenleben, Bildung und Nachhaltigkeit. Sie ist Mitgründerin der Initiative KAUZ – Werkstatt für Klima, Arbeit und Zukunft – und des KauzPod, dem Podcast zu Klima, Arbeit und Zukunft.
Jutta Matysek, Sprecherin der BürgerInitiative „Rettet die Lobau – Natur statt Beton“, ein überparteilicher Verein, der sich seit 2003 gegen die geplanten Autobahnen im Nordosten von Wien und für umweltfreundliche Mobilität und den Schutz der Lobau einsetzt.
Josef Mühlbauer, Politikwissenschaftler, Mitarbeiter des Varna Institute for Peace Research (VIPR); Arbeitsschwerpunkte: Queeranarchismus, Staatstheorien und Degrowth. Mitherausgeber des Sammelbandes „Zur imperialen Lebensweise“ (Mandelbaum Verlag, 2022).
Lilly Panholzer, Lehrerin für BE und Werken an einem Wiener Gymnasium, aktiv bei den Teachers for Future, findet, dass in der Schule und anderswo Kollapsbewusstsein und die Revolution für das Leben (noch) viel zu klein ist und fordert hiermit auf, dies zu ändern. Mentale Unterstützerin von #Lobaubleibt.
Katharina Ritter, Juristin, Kuratorin und Autorin für Architektur. Seit 1994 ist sie als Kuratorin und seit 2006 als Programmkoordinatorin für das Architekturzentrum Wien tätig.
Michael Sertl, ehemaliger Hauptschullehrer, Soziologe; Humanwissenschafter an der PH Wien (i.R.); Arbeitsschwerpunkte: Schule und soziale Ungleichheit; Soziologie der Schule und des Unterrichts. Mitherausgeber der Schulhefte.
Gerlind Weber, Studium der Soziologie, Rechtswissenschaften, Raumplanung. 1991–2012 Universitätsprofessorin für Raumforschung und Raumplanung an der Univ. für Bodenkultur. Lehrtätigkeit an zahlreichen Universitäten und Gastprofessur an ETH Zürich und Kyoto University. Heute freischaffende Raumwissenschafterin. Sie beschäftigt sich mit der nachhaltigen Entwicklung ländlicher Räume, schrumpfenden Regionen, Frauen am Land, Bodenpolitik, Ortskernrevitalisierung und den Raumwirkungen des demographischen Wandels.
Christa Wichterich, feministische Soziologin mit den Schwerpunkten Gender und Entwicklung, hat als Gastprofessorin für Geschlechterpolitik in Kassel, Wien und Basel unterrichtet. Arbeitet gleichzeitig als freiberufliche Publizistin und Buchautorin. Arbeitsschwerpunkte: feministische Ökonomie und Ökologie, Care Arbeit, internationale feministische Bewegungen.
Markus Wissen, Politikwissenschaftler, lehrt und forscht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung, Arbeitsschwerpunkte: imperiale Lebensweise, Arbeit und Ökologie, sozial-ökologische Transformation.
Bestellen
Studienverlag: Schulheft 186