Integration lernbehinderter Jugendlicher
Es ist das Schicksal lernbehinderter Jugendlicher, am Rand der Gesellschaft zu leben. Sie stammen zumeist aus einem negativ privilegierten Milieu, haben oft einen Migrationshintergrund, müssen sich in einem selegierenden Schulsystem bewähren und erhalten eine unzureichende Vorbereitung auf das Berufsleben. Sie werden in Schulen integriert, die zumeist Jugendliche hervorbringen, die am Rand der Gesellschaft leben. Sie sind wie viele Jugendliche, die keinen oder einen schlechten Pflichtschulabschluss aufweisen können, im gegenwärtigen kapitalistischen System überflüssig geworden, weil sie nicht einmal mehr zur Reservearmee der industriellen Produktion gehören. Robert Misik Michael Rittberger Petra Pinetz Brigitte Egger Barbara Falkinger Otto Anlanger Susanne Schöberl Jürg Jegge René – ein „unhandlicher“ Lehrmeister In seinem Buch "Verworfenes Leben" [1] stellt Zygmund Baumann dar, dass heute bis zu einem Drittel der Erwachsenen und Jugendlichen für den Arbeitsprozess überflüssig und daher auf dem Arbeitsmarkt kaum mehr vermittelbar geworden sind. In der Hauptsache seien dies Menschen mit geringen oder gar keinen Schulabschlüssen. Die ASO-SchülerInnen in der Integration in der Sekundarstufe, deren Situation dieses Heft untersucht, gehören sicherlich dazu, für sie gibt es meistens nur prekäre, ständig wechselnde und/oder gar keine Arbeitsverhältnisse. An ArbeitnehmerInnen werden heute neue Anforderungen gestellt, wie etwa Spontaneität, Kreativität, Teamfähigkeit, ja sogar unorthodoxes Denken, Anforderungen, welche die untersuchte Gruppe oft nicht erfüllen kann (siehe dazu auch das schulheft Kontrollgesellschaft und Schule ). [2] Neue Lernformen und reformpädagogische Ansätze, wie sie heute auch durchaus von Arbeitgeberseite her befürwortet werden, sind sicher nötig, um heterogene Gruppen zu unterrichten, also für die Integration Lernbehinderter unerlässlich, auch ist eine Diversität zwischen den SchülerInnen nicht unbedingt abzulehnen, allerdings bestehen dabei einige Probleme. Zum einen gibt es an den Reformpädagogiken profunde Kritik (z.B. Dietrich Benner in "Reformpädagogik 1-3" ) [3], zum anderen stellt sich bei allen reformpädagogischen Ansätzen erst recht ein Form-Inhalt- Problem: Welcher Inhalt braucht welche Form, welcher Inhalt soll unterrichtet werden; das Problem (kritischer) Unterrichtsinhalte kann durch sie nicht umgangen werden. Drittens fehlt Lernbehinderten, da sie zumeist aus der Unterschicht stammen, die Fähigkeit, sich in Institutionen "etwas zu holen". Dadurch können etwaige schichtspezifische Unterschiede in offenen Lernformen noch vertieft werden. Meistens bestehen bei Lernbehinderten zusätzliche soziale und emotionale Probleme in der von der Mittelschichtkultur do- minierten Schule und der Gesellschaft, einerseits als Verhaltensabweichungen durch das von der Mittelschichtnorm abweichende Lernangebot der Unterschicht, andererseits durch die strukturelle Gewalt der Umgebung (siehe etwa : 15. Bezirk/äußere Mariahilferstraße) und sich den daraus ergebenden Aggressionen (damit ist nicht unbedingt Gewaltbereitschaft gemeint, auch Anorexien haben z.B. einen aggressiven Hintergrund), sowie durch eine Vielzahl negativer Vorbilder aus den Medien. Die Hauptschule, in die die lernbehinderten SchülerInnen integriert werden, ist in den Städten zur Restschule verkommen. Dies bedeutet letztlich, dass alle, die "nur" eine Hauptschule besuchen (bis auf einige "Aufsteiger"), ebenfalls zu den "Überflüssigen" gehören, dass also gerade so die Integration in die (Arbeits-) Gesellschaft wieder verhindert wird. Das vorliegende schulheft setzt sich in seinen Beiträgen mit dieser Thematik auseinander: Als Einleitung dient der Artikel "Überflüssige Menschen" von Robert Misik, der in die von Zygmund Baumann in seinem Buch aufgeworfene Problematik von im gegenwärtigen Kapitalismus überflüssig gewordenen Menschen einführt. Artikel und Buch waren die Auslöser dafür, sich mit der Integration von lernbehinderten Jugendlichen wieder einmal näher zu befassen, ist es ja gerade auch diese Gruppe, die vom "Überflüssigsein" am ehesten betroffen ist. Michael Rittberger verknüpft in seinem Artikel das Problem der Lernbehinderung mit der Milieuproblematik und zeigt so die vielfältigen Benachteiligungen dieser SchülerInnen auf. Petra Pinetz beschreibt die Benachteiligungen von lernbehinderten SchülerInnen in Schule und Arbeit, sowie bestehende Hilfsmaßnahmen zur beruflichen Integration. Weiters führt sie Faktoren an, die diese Integration fördern bzw. hemmen. Brigitte Egger stellt die Komorbidität von Lernbehinderung und emotionalen und sozialen Problemen dar und führt in einem Beispiel an, wie wichtig die psychische Betreuung von IntegrationsschülerInnen ist. Barbara Falkinger berichtet von der problematischen Lage einer KMS, früher Hauptschule, die ja auch SekundarschülerInnen mit ASO-Beurteilung mitsamt deren Problemen noch zusätzlich integrieren muss, es gibt ja kaum solche SchülerInnen in der AHS. Sie stellt auch vor, wie die LehrerInnen dennoch versuchen, engagierten Unterricht zu machen. Otto Anlanger beschreibt die Situation von benachteiligten Jugendlichen an der Polytechnischen Schule und geht auf aktuelle Studien zum Arbeitsmarkt ein. Susanne Schöberl berichtet von der schlechten Vorbereitung österreichischer Jugendlicher auf das Berufsleben. Sie untermauert die vorhergehenden Artikel nochmals mit vielen Zahlen und zeigt den starken Einfluss von sozialem Hintergrund und Region auf die Bildungswegwahl und den Verlauf der Bildung auf. Um das Projekt Märtplatz, eine außergewöhnliche berufliche Integrationsmaßnahme in der Schweiz, und die (gelebte) Philosophie, die dahinter steckt, verständlich zu machen, hat Otto Anlanger zwei Bücher, die Jürg Jegge zu diesem Thema geschrieben hat, ziemlich umfangreich rezensiert, sich mit dem Autor mehrmals in Wien getroffen und freundlicherweise auch die Erlaubnis bekommen, einen Vortrag, den Jegge 2003 in Innsbruck gehalten hat, abzudrucken. Ergänzt wird dieser Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe des schulhefts von einem Interview, das Anlanger mit einem Lehrmeister des Märtplatzes geführt hat. Die Fotos in diesem Heft wurden von Otto Anlanger während der berufspraktischen Tage seiner Klasse aufgenommen. Sie sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Arbeitsplatzsituation nicht so positiv aussieht, wie die Abbildungen vielleicht glauben machen. Anmerkungen: Otto Anlanger, Integrationslehrer an einer polytechnischen Schule, Wien Brigitte Egger, Sonderschul- und Sprachheillehrerin, Psychagogin, Wien (derzeit psychagogische Betreuerin an der KMS 15) Barbara Falkinger, Lehrerin an der KMS 15, Mediatorin, Wien Robert Misik, freier Journalist, Wien Jürg Jegge, Lehrer, Leiter des „Märtplatz“, einer Lernstatt für Jugendliche ‚mit Startschwierigkeiten‘, Rorbas-Freienstein, Schweiz Petra Pinetz, Institut für Bildungswissenschaft, Universität Wien Michael Rittberger, Integrationslehrer an der KMS 15, Wien Susanne Schöberl, stellvertretende Leiterin der Abteilung Bildungspolitik in der Kammer für Arbeiter und Angestellte, Wien Studienverlag: Schulheft 126Klappentext
Zur Integration lernbehinderter Jugendlicher
Inhalt
Überflüssige Menschen
Über die Rückkehr eines Konzepts
Leben am Rand
Zur Integration lernbehinderter Jugendlicher
Unüberwindbare Übergänge?!
Eine Darstellung des Übergangs von der Schule in die Arbeitswelt von jungen Frauen und Männern mit einer Lernbeeinträchtigung
Wie sich soziale Benachteiligung auf die emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen auswirken kann
Verlierer, oder was?
Ein Einblick in den schulischen Alltag an einer Wiener KMS
Brücke oder Graben?
Der Übergang von der Polytechnischen Schule ins Berufsleben. Erfahrungen, Daten, Fakten
Schlecht vorbereitet ins Berufsleben entlassen
Bildungsstand von Jugendlichen in ÖsterreichDas Projekt Märtplatz in der Schweiz
An der Schwelle zur Arbeit
Interview mit einem Lehrmeister des MärtplatzesVorwort
[1] Zygmund Baumann: Verworfenes Leben, Hamburg, 2005
[2] Nr. 118, 2005
[3] Dietrich Benner: Reformpädagogik, Weinheim und Basel, 2003AutorInnen
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