Politische Bildung kritisch überdenken
Politische Bildung steht vor neuen Herausforderungen. Konkurrenz, Zeitdruck, gesellschaftliche Spannungen, Sparpolitik, Normierungen und ständige Kontrollen beeinträchtigen Bewusstseinsbildung als Voraussetzung politischer Bildung. Die AutorInnen dieses schulhefts geben Denkanstöße, lenken den kritischen Blick auf Bestehendes und suchen Ansätze für Alternativen, um der zunehmenden Entpolitisierung und neoliberalen Ideologisierung entgegenzutreten. Vorwort Zur Kritik der politischen Bildung Eva Borst Peter Malina Stefan Vater Christian Graf Geschichtspolitiken Renée Winter Peter Malina Praxisfelder politischer Bildung Barbara Waschmann, Renate Schreiber Stefanie Vasold Gegenentwürfe Gerald Oberansmayr Peter Strutynski Militärische Bildungsoffensiven Eveline Steinbacher Diskussionsbeitrag des österreichischen Friedensrates Buchbesprechungen Gerald Oberansmayr: Michael Schulze von Glaser: Ein Beispiel unverantwortlicher Einflussnahme Arbeitskreise Informationen zu „Pädagogik und Politik“ Horst Adam AutorInnen Politische Bildung steht schon lange vor neuen Herausforderungen. Die Ökonomisierung neoliberaler kapitalistischer Prägung verändert den Bildungsbegriff, die Bildungseinrichtungen, das Bildungssystem. Einen neuen Höhepunkt dieser Entwicklung signalisiert die Unterstellung des Wissenschafts- unter das Wirtschaftsministerium. Von Seiten der Beschlüsse und Verträge der EU wird Bildung unter das Konkurrenzgebot, Zeitdruck und sparpolitische Maßnahmen gezwungen. Konkurrenz, Zeitdruck, gesellschaftliche Spannungen, Sparpolitik, Normierungen und ständige Kontrollen beeinträchtigen Bewusstseinsbildung als Voraussetzung politischer Bildung. Seit den 1970er Jahren gibt es den Grundsatzerlass für politische Bildung als gesetzliche Grundlage für eine einerseits interessante fortschrittliche, andererseits auch angepasste Tätigkeit von Institutionen und Initiativen in diesem Bereich. In etwa demselben Zeitraum hat das schulheft mehr als 150 Nummern herausgegeben, zum großen Teil mit Themen, die man der politischen Bildung zuordnen kann, allerdings in meist kritischerer Herangehensweise als das in Institutionen üblich ist. In den letzten Jahren erschienen mehrere Nummern, die sich im Sinne kritischer Pädagogik mit Voraussetzungen für eine kritische politische Bildung beschäftigten. Dieses schulheft gibt Denkanstöße, lenkt den kritischen Blick auf Bestehendes und sucht Ansätze für Alternativen, um der zunehmenden Entpolitisierung und neoliberalen Ideologisierung entgegenzutreten. Eva Borst vertritt im einführenden Beitrag Bewusstseins(zer)störung: Eine bildungstheoretische Sicht auf den Neoliberalismus eine kritische Pädagogik, die auf politische Veränderung, auf Demokratisierung, Solidarität und Humanität abzielt und sich gegen die neoliberale Überwältigung des Bildungswesens wendet. Sie nennt es neoliberales Zerstörungswerk, wenn Bildung rein wirtschaftlichen Zwecken geopfert wird, und sie untersucht die Auswirkungen der Ökonomisierung und Kommodifizierung der Bildung unter historisch-systematischen Gesichtspunkten. Einer der Gründerväter des Neoliberalismus, der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Friedrich August von Hayek hat mit seiner Theorie der kulturellen Evolution die sozialdarwinistischen Maßstäbe vorgegeben: Marktstrukturen seien alternativlos, die Menschen müssten sich ständig und bedingungslos im Konkurrenzkampf bewähren, Armut entstehe aus der Schwäche der Menschen usw. Dem hält Eva Borst z. B. Überlegungen von Hannah Arendt und Adorno entgegen, in denen es um Kritikfähigkeit, Humanität, Solidarität, Stabilität und sozialen Frieden geht. Für Eva Borst gehören materielles Auskommen, körperliche und geistige Integrität und die Schaffung der Möglichkeit, sich in solidarischer und mithin historisch-gesellschaftlicher Verantwortung aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligen zu können, zur Menschlichkeit. Das Diktat der Ökonomisierung fußt auf Beschleunigung und Konkurrenz, die das Verhältnis zwischen Menschen, Ländern, Unternehmen u.v.m. beherrschen. Unter diesen Umständen verlieren Menschen die Fähigkeit und Möglichkeit zu denken, ihr kritisches Bewusstsein zu entwickeln und werden manipulierbar. Eva Borst erklärt diese Entwicklung sehr schlüssig und spricht dann notwendige Alternativen an. Kritische Pädagogik ist aufgerufen, gegen jene Projekte zu opponieren, die Kindern und Jugendlichen Zeit und Raum für Selbsterfahrung und eigenwilliges Denken rauben. Es ist notwendig und möglich, Verantwortung zu übernehmen und gegen die neoliberale Evolutionstheorie anzutreten. Ein kritischer Bildungsbegriff, der nach Humanität und Freiheit fragt und ethisch-moralisch zu begründen ist, darf nicht im Dienste wirtschaftlicher Prosperität verdrängt werden. Die Autorin setzt wie Heydorn auf die Möglichkeit einer großen Bezweiflung. Peter Malina bezieht sich in seinem Artikel „Politik“ lernen in Zeiten der Krise bei der Definition der Aufgaben politischer Bildung vor allem auf kritische Wegweiser wie Christoph Butterwegge und einige österreichische Stimmen aus Pädagogik, Politik- und Sozialwissenschaft. Die kritische Sicht auf die neoliberalen Veränderungen und die Forderung nach einer politischen Bildung, die Fragen nach emanzipatorischen, demokratischen Alternativen stellt, können in der Krise zu neuen Wegen ermutigen. Pointiert wie der Titel seines Beitrags Mehr Experten! Mehr Wirtschaft! Mehr Evidenz! umreißt Stefan Vater die Auswirkungen des neoliberalen Kapitalismus. Ein Teil dieser neoliberalen Wende oder zunehmenden neoliberalen Hegemonie ist laut Vater die Zurückdrängung des Politischen, der Demokratie und der demokratischen Bildung zugunsten einer scheinbar sachverhaltsorientierten Politik, die der Durchsetzung der Interessen mächtiger Lobbys dient. Vater erläutert die Notwendigkeit der politischen Bildung, sie muss zu kritischer Reflexionsmöglichkeit, Utopiefähigkeit und Handlungsmacht befähigen. Christian Graf eröffnet uns im Artikel Demokratie fällt nicht vom Himmel Einblicke in die speziellen Schwierigkeiten, unter den gegebenen Schweizer Rahmenbedingungen politische Bildung zu definieren und zu organisieren. Er meint einleitend, es w.re zu erwarten, dass im Lande mit der weltweit höchsten Anzahl von Sachabstimmungen die politische Bildung sowohl vom Staat als auch von der Zivilgesellschaft stark gefordert würde. Der Artikel zeigt auf, weshalb in der Schweiz nach einer langen Zeit wieder eine Diskussion um die politische Bildung in den Schulen in Gang gekommen ist. In dieser wichtigen Phase macht sich das Fehlen einer nationalen, von Bund und Kantonen geförderten Institution für politische Bildung besonders bemerkbar. Für eine solche bräuchte es aber den politischen Willen, um die dafür notwendigen gesetzlichen Grundlagen zu schaffen. Geschichtspolitiken als Teil politischer Bildung stehen im Fokus der Beiträge von Renée Winter und Peter Malina. Der Beitrag von Renée Winter: Geschichtspolitische Bildung im ORF beschäftigt sich mit geschichtspolitischer Bildung im österreichischen Fernsehen. Seit den Anfängen des Fernsehens in Österreich wurden Fernsehsendungen mit Bildungsanspruch produziert und ausgestrahlt, 1962 wurde das sogenannte „Schulfernsehen“ eingeführt; integraler Bestandteil waren Sendungen mit geschichtspolitischen Themen. Auch über die Geschichte des Nationalsozialismus wurde nicht geschwiegen – ihre Darstellung bewegte sich jedoch innerhalb bestimmter Grenzen und arbeitete mit bestimmten Strategien zur Viktimisierung von ÖsterreicherInnen und Externalisierung des Nationalsozialismus. Eine wichtige Funktion stellte die Erziehung der ZuschauerInnen und SchülerInnen zu demokratischen StaatsbürgerInnen und österreichischen PatriotInnen dar. Im Artikel von Renée Winter werden frühe Geschichtssendungen des österreichischen Fernsehens exemplarisch diskutiert und bezüglich ihrer politischen Funktionen, Ästhetiken und Aussagen den 2013 wieder ausgestrahlten und digitalisierten Folgen der schon in den 1980er Jahren umfassend kritisierten Geschichtsdokumentations- Reihe „Österreich I“ von Hugo Portisch gegenübergestellt. Peter Malina problematisiert gängige Sichtweisen auf den 1. Weltkrieg: Politische Bildung für Schlafwandler? Politische Bildung ist gefordert, auf ein umfassendes Verständnis von Krieg und Gesellschaft zu achten, Fragen und Diskussionen zuzulassen und das Angebot von gegensätzlichen Erklärungsmustern aus historischen Forschungsarbeiten mit eigenen Geschichtsbildern zu konfrontieren. Das Erinnerungsjahr 2014 sollte Anlass sein, diesen Krieg aus der Fixierung auf politische/diplomatische und militärische Sachverhalte zu lösen und ihn insgesamt in einen gesamtgesellschaftlichen nationalen und globalen Kontext zu stellen. Zwei ganz konkrete Beispiele engagierter politisch bildender Initiativen stellen die beiden Beiträge über „Junge Normale“ und „Selbstlaut“ dar. Barbara Waschmann und Renate Schreiber geben uns einen interessanten Einblick in „Politische Bildung auf österreichisch“. Sie stellen uns gleichzeitig ihr Projekt für Medienbildung nach zehnjährigem Bestehen vor: Junge Normale. 10 Jahre gesellschaftspolitisches Kino für SchülerInnen. Und das ist wirklich möglich – in einer Verschränkung von Medienpädagogik und politischer Bildung gelingt es, SchülerInnen und Lehrenden Dokumentarfilme aus aller Welt und deren gesellschafts- und wirtschaftskritische Themen mit entwicklungs-, sozial- und umweltpolitischen Aspekten im wahrsten Sinn des Wortes nahezubringen. Stefanie Vasold stellt persönlich engagiert die Arbeit des überparteilichen Vereins „Selbstlaut – gegen sexuelle Gewalt an Kinder und Jugendlichen“ vor, die Materialsammlung „ganz schön intim“. Befreiend und politisch bildend ist schon allein ihr Um gang mit dem Medienrummel aus konservativen Ecken, den diese Arbeit provozierte. Im Mittelpunkt des politischen Interesses steht die Wertschätzung der Kinder und Jugendlichen. Die Gruppe vertritt eine Haltung, die fachlich gesehen dem Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt dient und bewusst politisch verstanden, das Eintreten für eine Gesellschaft mit gleichen Rechten für alle meint. Die weiteren Beiträge brechen mit ihren Themen politische Tabus, füllen blinde Flecken und verweisen auf notwendige gesellschaftliche Alternativen. Gerald Oberansmayr belegt in seinem Artikel Alternativen zum System der Alternativlosigkeit fundiert die Macht der wirtschaftlichen und politischen Eliten der Europäischen Union, die auf Aushungerung der öffentlichen Budgets, Verhinderung des Schutzes nationalstaatlicher Märkte, Blockierung der Sozialstaatlichkeit auf europäischer Ebene zielt. Für das alles durchdringende sozialdarwinistische Konkurrenzprinzip sind Sozialstaat und Demokratie Auslaufmodelle. Oberansmayr stellt die Frage, was die „Postdemokratie“, deren Hauptfunktion darin besteht, einem zunehmend autoritären, neoliberalen Kapitalismus ein formaldemokratisches Feigenblatt zu verschaffen, für politische Bildung bedeutet. Er fordert sehr direkt, die vorhandenen Tabus zu brechen und sich aus der vermeintlichen Alternativlosigkeit des EU-Konkurrenzregimes zu befreien. Politische Bildung müsste daher zum Prozess der Selbstermächtigung und Gegenmachtsbildung beitragen und Menschen ermächtigen, sich zu organisieren, um Widerstand gegen die alten/neuen Herrschaftseliten leisten zu können. Peter Strutynski geht von einem Rückblick auf die Orientierung vergangener Konzepte der politischen Bildung aus: Politische Bildung im Zeitalter globaler Ressourcenkriege. In den 1970er Jahren galt der Begriff des „solidarischen Lernens“, geprägt von der damaligen Sozialstaatlichkeit und Stärke der Gewerkschaften. Die deutsche politische Bildung hat auf die neuen Entwicklungen und Herausforderungen mit dem Konzept des „globalen Lernens“ reagiert. Strutynski erscheint dabei das Problemfeld Krieg/Frieden unterbelichtet zu sein, er widmet daher seinen Beitrag der Frage nach Kriegsursachen und Grundlagen des internationalen Rechts, um daran die Forderungen einer politischen Bildung mit globaler Verantwortung zu knüpfen. Eveline Steinbacher nimmt sich in ihrem Beitrag Militarisierung von Wissenschaft und Forschung eines Themas an, das in Österreich kaum Beachtung findet, nämlich die immer stärkere Durchdringung der zivilen Forschung von militärischen Interessenö Sie fragt nach den Gründen und Zielen dieser Entwicklung und präsentiert eine Fülle konkreter brisanter Rechercheergebnisse. Sie verweist auf das Beispiel der Zivilklauseln an einigen deutschen Universitäten, um zu einem ähnlichen Widerstand an österreichischen Unis anzuregen. Friedens- und Solidarbewegungen müssten wieder in österreichischen Bildungs- und Forschungseinrichtungen Fuß fassen. Österreichs Neutralität müsste ernst genommen und friedenspolitische Konzepte in den Bildungseinrichtungen etabliert werden. Auch der Diskussionsbeitrag des Österreichischen Friedensrates sieht die zivil-militärische Kooperation als Irrweg und fordert zur Verweigerung auf. Die Buchbesprechungen in dieser Nummer beschäftigen sich schwerpunktmäßig und kritisch mit Kriegs- und Friedensthemen. Ein besonderes Anliegen dieses schulheftes ist es schlussendlich, auf andere Arbeitskreise mit ähnlicher Orientierung hinzuweisen. Elke Renner Horst Adam, Historiker, Dozent für Allgemeine und Schulpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Magdeburg Eva Borst, Privatdozentin am Institut für Erziehungswissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Bernhard Golob, AHS-Lehrer, Wien Christian Graf, Mitautor von „Politik und Demokratie leben und lernen“, pädagogischer Leiter von „Jugend debattiert“ und freier Mitarbeiter der „Stiftung Dialog“ Peter Malina, Zeithistoriker, Wien Gerald Oberansmayr, Aktivist der Solidarwerkstatt, Erwachsenenbildner, Linz Elke Renner, AHS-Lehrerin i.R. Renate Schreiber, Medienpädagogin, Lehrerin an einer Polytechnischen Schule, im Vorstand von normale.at Eveline Steinbacher, Aktivistin der Solidarwerkstatt, Angestellte, Linz Peter Strutynski, Politikwissenschaftler und Friedensforscher; Leiter der Arbeitsgruppe Friedensforschung, Kassel Stefanie Vasold, Politikwissenschafterin, Mitarbeiterin des überparteilichen Vereins „Selbstlaut – gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ Stefan Vater, Sozial- und Wirtschaftswissenschafter, Erwachsenenbildner, Wien Barbara Waschmann, Obfrau von normale.at, Verein für gesellschafts- und wirtschaftspolitische Filmvorführungen Renée Winter, Historikerin, Lehraufträge zu Zeitgeschichte, Medienund Geschlecht, Wien und LinzKlappentext
Inhalt
Bewusstseins(zer)störung: Eine bildungstheoretische Sicht auf den Neoliberalismus
„Politik“ lernen in Zeiten der Krise
Fragen, Aussagen und Ausblicke
Mehr Experten! Mehr Wirtschaft! Mehr Evidenz!
Politische Bildung und Lebenslanges Lernen
Demokratie fällt nicht vom Himmel, auch nicht in der Schweiz
Bemerkungen zum Zustand der politischen Bildung in den Schulen der Schweiz
Geschichtspolitische Bildung im ORF. Ein Blick auf das frühe Fernsehen
Politische Bildung für Schlafwandler?
Der Erste Weltkrieg als Lehrstück
Junge Normale
10 Jahre gesellschaftspolitisches Kino für SchülerInnen
„ganz schön intim“
Eine fachliche, politische und persönliche Schilderung der medialen Aufregung um Sexualerziehung in der Volksschule
Alternativen zum System der Alternativlosigkeit
Politische Bildung im Zeitalter globaler Ressourcenkriege
Militarisierung von Wissenschaft und Forschung
Zivil-militärische Kooperationen als Irrweg
Militärforschung und Wehrindustrie im Zwielicht
„Denn der Menschheit drohen Kriege …“
Neutralität contra EU-Großmachtswahn
Soldaten im Klassenzimmer.
Die Bundeswehr an Schulen
Wessely/Vogel:
Wuckl der Bär. Briefe vom Papa
Hrsg.: MiliPfarre beim MilKdo Burgenland
Arbeitskreis „Kritische Pädagogik“ Vorwort
AutorInnen
Bestellen