Zur Kritik neuer Lernformen
Andreas Gruschka Helmut Bremer/Uwe H. Bittlingmayer Michael Rittberger Gerhard Patzner Ingrid Teufel Ein Gespräch mit Grete Anzengruber Lernen und Unterricht haben neu und offen zu sein. Keine ernsthafte pädagogische Publikation ohne den Hinweis auf die notwendige "Heterogenisierung" und "Individualisierung", auf "Freiarbeit" und "Offene Lernphasen", auf "selbstgesteuertes Lernen" oder den "autonomen Lerner" (in der Erwachsenenbildung). Wie hegemonial diese Offenen Lernformen (OL) sind, lässt sich auch daraus ablesen, dass praktisch auf jeder Website der Wiener Volksschulen der entsprechende Hinweis zu finden ist. Hegemonial ja! Wie es tatsächlich um die Verbreitung und Anwendung dieser OL beschaffen ist, steht auf einem anderen Blatt. Kulturhistorisch lassen sich die OL sicher in einen Zusammenhang mit der "Kulturrevolution" von 1968 stellen: Kampf gegen Hierarchien, für Partizipation, Individualisierung usw. Mit dem Stichwort "1968" ist aber auch der Hinweis verbunden, dass es sich bei den tragenden Kräften dieser Kulturrevolution, wohl besser "Studentenrevolte", eher um eine Minderheit, nämlich um Studenten gehandelt hat. Diese agierten sozusagen als Spitze und Avantgarde der bildungsorientierten Mittel- und Oberschichten. Damit ergibt sich eine erste wichtige Frage für die Untersuchung der OL: Wie steht’s eigentlich mit der Förderung der Kinder aus bildungsfernen Schichten, mit der Förderung der Lernbehinderten, der Migrantenkinder usw.? Skeptisch macht uns auch die Beobachtung, dass die OL offensichtlich sehr gut in die Überlegungen der Arbeitgeberverbände passen. OL scheinen eine pädagogische Antwort auf die Forderung nach dem "flexiblen Menschen" (R. Sennett) zu liefern, dem die traditionelle Arbeitnehmer-Rolle abhanden kommt, der dafür als "Unternehmer seiner selbst" (Foucault) agieren soll. So schreibt beispielsweise die Österreichische Industriellenvereinigung in ihrem aktuellen Programm "Zukunft der Bildung - Schule 2020": "Auf frontale und passive Rezeption ausgerichtete Lernkonzepte werden zunehmend von "self-learning"- Konzepten abgelöst. Schülerinnen und Schüler lernen durch selbständiges Erarbeiten von Inhalten, Projekten, Teamwork, Experimental- und Feldarbeit…" In dieses Bild passt auch, dass die Forderung nach OL meistens mit der so genannten Begabungsförderung verbunden wird. Es herrscht sozusagen ein pädagogischer Imperativ, aus den einzelnen Schülerinnen und Schülern die jeweiligen Stärken herauszuarbeiten, und das auf jeweils höchstmöglichem Niveau. Die Stärken werden allerdings sehr selektiv wahrgenommen: 1. Es geht immer noch um traditionelle "Begabungen" wie sprachbegabt, naturwissenschaftlich oder künstlerisch begabt, … 2. Es geht um ökonomisch verwertbare Begabungen; nicht unbedingt im Sinne des individuellen Nutzens, vielmehr im Sinne der für die Volkswirtschaft wichtigen "Exzellenz". Es geht also um die Vorbereitung und Generierung von Spitzenleistungen, die der jeweiligen Volkswirtschaft im globalisierten Wettbewerb mit den anderen Volkswirtschaften den Vorsprung oder zumindest die Teilnahme sichern soll. Aus dieser Perspektive gerät das Argument vieler BefürworterInnen der OL, dass die Heterogenisierung quasi der individualisierten "Natur" des Menschen entspreche und man sich direkt fragen müsse, warum das nicht schon viel früher "entdeckt" worden sei, in ein anderes Licht. Natürlich ist die Unterschiedlichkeit der einzelnen Menschen evident und eine anthropologische Konstante. Aber gerade deshalb muss man die historischen Umstände, unter denen diese Unterschiedlichkeit zur pädagogischen Maxime wird, genauer unter die Lupe nehmen. Es spricht also einiges dafür, den Grund für die (Wieder)Entdeckung der Heterogenität nicht in einer neuerlichen Entdeckung der "Natur" zu suchen, sondern vielmehr in den aktuellen Verhältnissen, die die Markt- und Wettbewerbslogik zur strukturellen Bedingung jeder menschlichen Lebensäußerung zu machen versuchen. So wie die Schulprofilierung der Einzelschule (Schulprogramm-Gestaltung) wenig Sinn macht ohne die gleichzeitige Beachtung der Tatsache, dass diese Schulen jetzt in einen Wettbewerb um die weniger werdenden SchülerInnen geschickt werden - Profilierung als Profil Zeigen auf einem Markt -, so steht der heterogenisierende Unterricht für die Profilierung der Einzelwesen. Uns erscheint es kein Zufall, dass das Thema Gleichheit unter BefürworterInnen der OL wenig Freunde hat. "Gleichmacherei" ist geradezu das Gegenprogramm zu den OL. Dieses schulheft liefert, in traditioneller schulheft-Manier, sowohl theoretische wie praktische Beiträge. Dass die praktischen Beiträge eher befürwortend ausfallen und die theoretischen eher kritisch, liegt wohl in der Natur der Sache. Wer praktisch an den OL Kritik üben wollte, gerät sehr schnell in den Verdacht, nichts ändern zu wollen. Es ist nicht ganz leicht, die OL zu kritisieren und gleichzeitig den traditionellen Unterricht als das zu benennen, was er ist: ein ziemlich veraltetes Institut. Dass umgekehrt die OL nicht "von selbst" das bringen, was eigentlich das Ziel jeder fortschrittlichen Pädagogik sein muss, nämlich bessere Bildungsergebnisse für Kinder aus bildungsfernen Schichten, das ist eines der Probleme, um das sich dieses schulheft dreht. Am Beginn steht Andreas Gruschkas bildungstheoretische Erörterung, die sich darum bemüht nachzuweisen, dass das "Neue" an den OL sowieso Programm eines bildungstheoretisch begründeten Unterrichts sein muss - oder sollte man sagen: müsste? De facto werden OL wie beispielsweise die "Präsentation" aber eher in bildungstheoretisch fragwürdigen Zusammenhängen eingesetzt. Helmut Bremer und Uwe H. Bittlingmayer liefern eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit "konstruktivistischen" Lerntheorien und weisen, gestützt auf Interviews aus dem Bereich der Erwachsenenbildung, darauf hin, dass es nicht nur den "autonomen Lerner" gibt, sondern auch ganz anders motivierte und organisierte Lerner-Typen. Die Position, dass grundsätzlich von einem "Selbst-Lerner" auszugehen ist, verweisen sie mit Bezug auf Bourdieu in den Bereich der Ideologie. Ein ausgesprochen vielfältiges und fast verwirrendes Bild liefert der Artikel von Barbara Müller-Naendrup, der empirische Befunde zu den OL zusammenstellt. Die Botschaft des Artikels lautet: Noch ist nicht wirklich nachgewiesen, dass OL mehr bringen als traditionelle Unterrichtsarrangements, aber es wird höchste Zeit, systematisch die methodologischen und inhaltlichen Probleme einer Evaluation der OL anzugehen. Michael Rittberger liefert das, was vorher als fast unmöglich dargestellt wurde: sowohl eine theoretische Erörterung, die sich auf die Suche nach den Stärken der OL macht, als auch die praktischen Erfahrungen des Sonderschulpädagogen, dessen Schluss leicht resignativ lautet: OL bringen auf jeden Fall eines - mehr Zeit für den/ die LehrerIn, sich um einzelne SchülerInnen zu kümmern. Gerhard Patzner fasst das "Credo" der BefürworterInnen der OL in Thesenform zusammen: "Ich glaube an Offenen Unterricht!" Eine sehr eindrucksvolle Schilderung dessen, wozu dieses "Credo" bei entsprechender "Begabung" der Lehrerin im Stande ist, liefert Ingrid Teufel: "Individualisierung kann gelingen!" Etwas skeptischer fällt der Befund der pensionierten AHS-Lehrerin Grete Anzengruber aus, die, nach anfänglicher Euphorie, die OL schließlich wieder eingepackt hat, auch deshalb, weil eigentlich nicht wirklich evident wurde, ob die OL das bringen, was sie zu bringen versprechen. Ihre Forderung: ernsthafte wissenschaftliche Begleitung und Evaluation. Michael Sertl Gerhard Patzner Grete Anzengruber, AHS-Lehrerin im Ruhestand; Wien; seiter.anzengruber@utanet.at Uwe Bittlingmayer, Soziologe; Arbeitsschwerpunkt: Bildungs- und Sozialisationsforschung; Universität Bielefeld; uwe.bittlingmayer@ uni-bielefeld.de Helmut Bremer, Soziologe; Arbeitsschwerpunkt: Erwachsenenbildung; derzeit Universität Hamburg; hbremer@uni-muenster.de Eveline Christof, Erziehungswissenschafterin; Arbeitsschwerpunkt: Erwachsenenbildung; Universität Wien; eveline.christof@univie.ac.at Andreas Gruschka, Erziehungswissenschafter; Arbeitsschwerpunkte: Unterrichtsforschung, Bildungstheorie, Didaktik; Universität Frankfurt; A.Gruschka@em.uni-frankfurt.de Barbara Müller-Naendrup, Erziehungswissenschafterin und Diplompädagogin; Arbeitsschwerpunkt: Primarstufenunterricht; Universität Siegen; mueller-naendrup@paedagogik.uni-siegen.de Michael Rittberger, Sonderschullehrer in Wien; Erziehungswissenschafter; michael.rittberger@utanet.at Michael Sertl, Soziologe und Lehrerbildner; PH Wien; michael.sertl@phwien.ac.at Ingrid Teufel, Volksschullehrerin; Lerngemeinschaft Wien 15 (Kinder aller Begabungsarten, von der 1. bis 8. Schulstufe), VS 15, Friedrichsplatz 5, 1150 Wien; ingrid.teufel@gmail.com Studienverlag: Schulheft 130Klappentext
Lernen und Unterricht haben neu und offen zu sein. Keine ernsthafte pädagogische Publikation ohne den Hinweis auf die notwendige "Heterogenisierung" und "Individualisierung", auf "Freiarbeit" und "Offene Lernphasen", auf "selbstgesteuertes Lernen" oder den "autonomen Lerner" (in der Erwachsenenbildung). Offene Lernformen sind in der Schule hegemonial geworden. Kommt zum Offenen und Neuen auch noch der reformpädagogische Impetus dazu, dann wird so getan, als würde der "Natur" des menschlichen Lernens - endlich! - zu ihrem Recht verholfen. Das vorliegende schulheft steht dieser "Naturalisierung" eher kritisch gegenüber. Die Offenen Lernformen werden aus bildungstheoretischer und soziologischer Perspektive beleuchtet. Berichte von PraktikerInnen ergänzen die Befunde.
Inhalt
Bildungstheoretische Reflexionen zum Offenen Unterricht
Die Ideologie des selbstgesteuerten Lernens und die "sozialen Spiele" in Bildungseinrichtungen
Barbara Müller-Naendrup
Was bringen offene Lernsituationen?
Forschungsbefunde zur Öffnung des Unterrichts - und ihre Probleme
Lernbehinderte SchülerInnen und "Offene Lernformen"
"Ich glaube an Offenen Unterricht!"
Individualisierung kann gelingen!
"Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!"
Vom Zwiespalt beim Unterrichten mit Offenen LernformenVorwort
AutorInnen
Redaktion
Michael Rittberger
Michael Sertl AutorInnen
Gerhard Patzner, Erziehungswissenschafter; Forschungsschwerpunkt: Schule und neoliberale Gouvernmentalität; Lektor an der Universität Graz; perner_patzner@aon.at Bestellen