Verlierer im Überfluss
Lorenz Glatz Was hat das mit Bildung zu tun? Michael Sertl Erich Ribolits Illustrative Beispiele Marion Breiter Gewinnt so hoch ihr könnt! Um Studierenden zu Bewusstsein zu bringen, wieweit der "Zwang zur Konkurrenz bei sonstiger Strafe des Untergangs" von uns allen heutzutage bereits verinnerlicht ist, verwende ich häufig ein Spiel mit dem bezeichnenden Titel, »Gewinnt so hoch ihr könnt«. Dabei werden aus den Teilnehmer/innen 4 Gruppen gebildet und diese - um die Kommunikation untereinander zu erschweren - voneinander separiert im Raum untergebracht. Die Teilnehmer/innen erhalten dann die folgende Spielanleitung: Bei diesem Spiel geht es für die teilnehmenden Gruppen darum, durch geschicktes strategisches Vorgehen eine möglichst hohe Punktezahl (einen möglichst großen Geldbetrag) zu gewinnen. Zehn Runden lang muss sich jede der vier Gruppen, unabhängig von den anderen, durch interne Beratungen entweder für ein »X« oder ein »Y« entscheiden. In Abhängigkeit der Relation dieser Entscheidung zu den Entscheidungen der anderen Gruppen gewinnen oder verlieren die einzelnen Gruppen dann pro Runde folgende Punktezahl (Geldbetrag). Vor jeder Runde haben die Teilnehmer/innen innerhalb der Gruppen eine Minute lang Zeit um zu beraten und sich auf eine bestimmte Entscheidung zu einigen. Vor der 5., der 8. und der 10. Runde besteht außerdem die Möglichkeit, dass aus den Gruppen jeweils ein Mitglied zu einer »Delegiertenbesprechung« entsandt wird. Die Delegierten der verschiedenen Gruppen können sich eine Minute lang besprechen und so eventuell das Vorgehen der einzelnen Gruppen aufeinander abstimmen. Im Anschluss an die Delegiertenbesprechungen besteht jeweils auch noch die Gelegenheit zur Beratung und Entscheidungsfindung innerhalb der Gruppen. Wohl jeder/jedem wird sehr schnell klar, dass es zwei konträre Strategien gibt, um dem Spielauftrag gerecht zu werden. Einerseits kann der Konkurrenzaspekt des Spiels in den Vordergrund gestellt werden: Indem man bei den Spielrunden jeweils "X" setzt und darauf hofft, dass zumindest eine andere Gruppe "Y" setzt, ist ein relativ hoher Gruppengewinn möglich. Andererseits ist es auch möglich in Kooperationsabsicht vorzugehen: Indem man jeweils "Y" setzt und hofft, dass die anderen Gruppen das ebenfalls tun, ist für alle Gruppen ein (geringerer) Gewinn möglich. In einem Fall wird der Auftrag, so hoch als möglich zu gewinnen, als Aufforderung, mit den anderen Gruppen in Konkurrenz zu treten, interpretiert und im anderen Fall als Aufforderung, alle teilnehmenden Gruppen mögen gemeinsam ein Maximum an Gewinn einfahren. Es ist nicht schwer zu erraten, wie das Spiel regelmäßig ausgeht: Obwohl es kaum jemanden gibt, der nicht spätestens nach der 3. Runde die Logik des Spiels durchschaut und obwohl die Gruppen durch die Spielregeln sogar zur kooperativen Absprache animiert werden, geht das Bestreben der Teilnehmer/innen der verschiedenen Gruppen stets weitgehend automatisch in die Richtung, besser als die anderen abzuschneiden zu wollen. Dieses Spiel demonstriert eindrucksvoll die in unser aller Köpfen heute tief verinnerlichte Konkurrenzhaltung. Selbst wo bloß ein symbolischer Gewinn winkt, wollen wir "besser" sein als die Anderen. Indem wir von frühesten Kindesbeinen an auf Konkurrenz und Siegen programmiert werden, halten wir Konkurrenz, aber auch das derzeitige Erodieren konkurrenzfreier Bereiche im Zusammenleben der Menschen für die selbstverständlichste Sache der Welt. Durch die Marktkonkurrenz geregelte gesellschaftliche Zustände erscheinen den meisten Menschen heute als gerecht und vor allem auch als "natürlich". Vorstellungen, die in die Richtung solidarischer Gesellschaft gehen, in der jeder nach seinen Möglichkeiten beiträgt und nach seinen Bedürfnissen bekommt, gelten längst schon nicht mehr bloß als schwer erreichbare Utopie, sie gelten schlichtweg als widernatürlich und ketzerisch. Aus dieser Grundeinstellung heraus werden Menschen, die im allgemeinen - meist euphemistisch als Wettbewerb verklärten - Konkurrenzkampf auf der Strecke bleiben, heute auch immer weniger als Opfer ablehnenswerter gesellschaftlicher Zustände, sondern zunehmend als "Verlierer/innen" in einem als "natürliche Auslese" wahrgenommenen Prozess gesehen. Und der verbreiteten Konkurrenzbefürwortung entsprechend, müssen sich Politiker/innen auch immer weniger dafür rechtfertigen, dass - trotz eines in den letzten Jahrzehnten massiv anwachsenden gesellschaftlichen Reichtums - die Zahl der "Verlierer/innen" immer größer wird. Die Tatsache, dass es Gewinner/innen ohne Verlierer/innen nicht geben kann und dass die anwachsende Zahl armer und an den Rand der Gesellschaft gedrängter Menschen eine unmittelbare Konsequenz des immer augenfälliger anwachsenden Reichtums weniger ist, ist aus dem allgemeinen Bewusstsein heute weitgehend verdrängt. Wenn derzeit über die humanen Kollateralschäden des verschärften Konkurrenzkampfes im globalisierten Kapitalismus überhaupt noch diskutiert wird, dann stets nur unter dem Gesichtspunkt, wie auch die Verlierer/innen noch fit für die Verwertung gemacht werden können, damit sie den anderen nicht unnötig auf der Tasche liegen. Und spätestens hier kommt auch die Pädagogik auf den Plan: Bildungseinrichtungen sind jene Orte, wo die Ideologie der Tüchtigkeit am unverblümtesten vertreten wird und wo die Forderung, dass alle gleiche Chancen haben sollen, sich für die Verwertung fit machen zu dürfen, bereits als gesellschaftskritisch gilt. Bildungseinrichtungen sind geradezu der Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Zustände, die auf der Dichotomie von GewinnerInnen und Verlierer/innen aufbauen. Nicht nur sind sie die zentralen Agenturen der Konkurrenzsozialisation, in denen den Menschen die allgemeine Spielregel, "Gewinnt so hoch ihr könnt", nach allen Regeln der Kunst eingebläut werden, sie liefern auch das Gerechtigkeitsalibi für die in Gewinner/innen und Verlierer/innen geteilte Gesellschaft. Die vorliegende Ausgabe des schulheft hat sich deshalb zweierlei zur Aufgabe gemacht. Einerseits die Dimension Gewinner/innen-Verlierer/innen unter den aktuellen gesellschaftlichen Zuständen ein wenig auszuleuchten und andererseits auch der Frage nach der Funktion der Pädagogik bei der Aufrechterhaltung dieser Dichotomie nachzugehen. "Wer hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat". Diesem Wahrspruch aus dem Beitrag von Lorenz Glatz möchte man keine Dauer zusprechen und in der Tat kommt auch am Ende seines "Loser sind wir alle" ein tröstliches "Wir Loser sind noch nicht am Ende!" Dass Armut in Österreich in erster Linie ein Verteilungsproblem ist, zeigt Gerhard Wohlfahrt in seinem Artikel. Die "zunehmende Inanspruchnahme von Hilfsorganisationen, steigende Langzeitarbeitslosigkeit, die ungelöste Problematik der Versorgung von Immigrant/innen und die fehlende Bereitschaft, neue Löcher im sozialen Netz zu erkennen und zu schließen", weisen darauf hin, dass die absolute Armut in Österreich steigt. Nicht mehr das "Schließen von Schwachstellen" ist mit Reform des Sozialstaates gemeint, sondern "fast nur mehr" das Einsparen. Auch die "relative" Armut steigt. So waren bereits 2003 über 1 Million Personen im Lande armutsgefährdet - Tendenz steigend. Demgegenüber ist ein zunehmender Reichtum festzustellen. Wer nun die Gruppen sind, die von Armut bedroht sind, analysiert Emmerich Tálos. Arm kann man ohne Arbeit aber auch trotz Arbeit sein. Einerseits ist eine kontinuierliche Steigung der Erwerbslosenrate zu verzeichnen, andererseits ist die Verbreitung von atypischen Beschäftigungsformen ebenfalls eine Ursache der zunehmenden Armutsgefährdung. Dass die Politik der schwarz/blau-orangen Regierung sich diesem Problem in erster Linie nur mit propagandistischen Worthülsen widmet, erläutert Tálos u.a. am Umgang mit dem Problem der Langzeitarbeitslosigkeit. Tibor Zenker richtet seinen Blick auf den globalen Zusammenhang von Armut und Reichtum. Weltweit müssen ca. 1,2 Milliarden Menschen mit einem Einkommen von weniger als 1 US-Dollar auskommen, zugleich übersteigt der Reichtum der weltweit 358 Milliardäre das Jahreseinkommen derjenigen Länder, in denen fast die Hälfte der Weltbevölkerung lebt. Und es gibt keine Tendenz, der ungleichen Verteilung des Reichtums entgegenzuwirken. Wie nun dem Status quo begegnet werden könnte und dass die "Globalisierung" definitiv eher Ursache als Lösung des Problems ist, zeigt Zenker in der Folge. Die PISA-Befunde sind bestens dafür geeignet, das Thema der "sozialen Ungleichheit" in der Schule (wieder) verstärkt zu thematisieren, wie Michael Sertl in seiner umfangreichen Analyse darstellt. Dass unser Bildungswesen "die ungleiche Verteilung von Gütern und Chancen" reproduziert, hat sich unter den "Bildungsarbeitern" schon weitgehend herumgesprochen, dass die Gesamtschule diesbezüglich Veränderungen gegenüber dem gegliederten Schulsystem bewirken könnte, ist die Hoffnung von Sertl. Lebenslanges Lernen wird heute als "Muss" für eine gesicherte Beschäftigung bis zum Erreichen des Pensionsalters propagiert. Laut Elke Gruber eine Empfehlung ohne entsprechende "Wirksamkeit". Nicht nur die Orientierung der Weiterbildung auf "Mittelschichtangehörige und Höherqualifizierte", sondern auch das Bestehen "geschlechtsspezifischer Disparitäten", der eingeschränkte Zugang von "Zuwanderern, Migrant/innen und Angehörigen ethnischer Minderheiten - in Österreich vor allem Roma und Sinti - entlarven die "Idee von der Weiterbildungsgesellschaft .... als politisch gewollte Kunstfigur". Ungleichheit wird im aktuellen konservativen politischen Mainstream zum "individuellen Problem" umgedeutet. Chancengleichheit (beim Bildungszugang) charakterisiert Erich Ribolits in seinem Artikel als Schimäre. Vorrangiges Ziel von Bildungsanstrengungen in der bürgerlichen Gesellschaft ist es nach wie vor, Menschen für den ihnen "zukommenden" Platz zuzurichten und keineswegs, sie zur Emanzipation von den Verhältnissen zu befähigen. Der jahrzehntelange sozialdemokratische Kampf um eine "barrierefreien Zugang" zur bürgerlichen Bildung hat daran nichts geändert. Anhand der Studie "Der Mythos von den Leistungseliten" von Michael Hartmann¹ zeigt Ribolits auf, dass soziale Herkunft das tatsächliche Selektionsinstrument im Bildungswesen und in der Folge für den Aufstieg im Berufsleben ist, dies von den "Nutzern/Eltern" und Bildungsarbeitern aber kaum wahrgenommen wird. Die neuesten Zahlen über die Dropout-Raten an den BHS² untermalen eindrucksvoll Mario Steiners empirische Befunde zum österreichischen Bildungssystem. Jugendliche der 2./3. Generation, Migrant/innen ohne EU-Staatsbürgerschaft finden sich überdurchschnittlich häufig unter den Drop-outs. Ebenso spielt das Bildungsniveau und der Arbeitsmarktstatus der Eltern eine große Rolle. Sind die Eltern arbeitslos, bedeutet das für über 20% ihrer Kinder das Scheitern in der Schule. Dass Armut auch in Österreich mehrheitlich Frauen betrifft, wird noch immer nicht entsprechend wahrgenommen. Marion Breiter zeigt in ihrer umfangreichen Analyse die Ursachen dafür. Diese sind unbezahlte Sorgearbeit in Familie und Haushalt, Benachteiligung und Diskriminierung am Arbeitsmarkt, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, andauernd wirksame Rollenstereotype, Migrant/innenhintergrund u.dgl. Eine Auflistung von sozialpolitischen Strategien gegen die Frauenarmut bietet einen möglichen Ansatz zur Veränderung. Auch Kinderarmut ist nur selten ein Thema der öffentlichen Diskussion. Ingolf Erler zeigt, dass diese (auch) hierzulande kontinuierlich zunimmt. Mit fast 8% betroffener Kinder liegt Österreich z.B. vor Tschechien (6,8%). Gebe es keine staatlichen Sozialhilfen, lebten sogar 17,8%(!) aller Kinder in relativer Armut. Die offensichtlichste Auswirkung von Armut auf Kinder ist deren Mangel an qualitativ guten Lebensmitteln, aber Armut hat auch gravierende psychische Folgen. Dass Schule als "belastender Ort" erlebt wird und entsprechende negative "Bildungskarrieren" die Folgen sind, ist ein weiterer Punkt, den Erler herausarbeitet. Grabenhofer und Moritz befürchten in ihrem Artikel, dass noch bestehende Freiheiten und Möglichkeiten in Einrichtung außerhalb des Regelschulwesens zunehmend von den Zwängen der sogenannten "Liberalisierung" des Bildungsangebotes eingeschränkt werden. Ökonomische "Logik" als ein "wesentliches Moment der freien Marktwirtschaft", also der Zwang Profit zu machen, wird der Forderung nach "Chancengleichheit" in nichtstaatlichen Bildungseinrichtungen sicher nicht zum Durchbruch verhelfen. Erich Ribolits, Johannes Zuber Der Mythos von den Leistungseliten (2002). Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft Frankfurt a/M: Campus ² http://derstandard.at/?url=/?id=2563942 Erich Ribolits Hans Zeger, Geschäftsführer der e-commerce monitoring GmbH, Obmann der ARGE Daten Hubert Eichmann, Soziologe am Zentrum für Soziale Innovation, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA) Paul Kolm, Leiter der Abteilung Arbeit und Technik der Gewerkschaft der Privatangestellten, Univ.-Doz. für Gesellschaftswissenschaftliche Grundlagen der Informatik, Technische Universität Wien Gerhard Patzner, Projektkoordinator/-mitarbeiter am ÖBIG (Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen) / Arbeitsbereich Gesundheitsberufe, Lektor an der Karl-Franzens-Universität Graz / Schwerpunkte: Schulpädagogik, Lehramtsausbildung Alfred Schirlbauer, Professor am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Wien Michael Sertl, Soziologe an der Pädagogischen Akademie des Bundes in Wien Michael Rittberger, Integrationslehrer an einer Kooperativen Mittelschule in Wien Helmut Breit, Lehrer an einer Kooperativen Mittelschule in Wien, Personalvertreter der "aktiven pflichtschullehrerInnen" (apfl) Studienverlag: Schulheft 123Klappentext
Menschen, die im allgemeinen Kampf, jede/r gegen jede/n, auf der Strecke bleiben, gelten heute kaum mehr als Opfer ablehnenswerter gesellschaftlicherZustände, sondern zunehmend als "VerliererInnen" in einem zum natürlichen Wettbewerb erklärten Prozess. Und der allgemeinen Konkurrenzbefürwortung entsprechend, müssen PolitikerInnen sich auch immer weniger dafür rechtfertigen, dass in den letzten Jahren die Zahl der VerliererInnen permanent anwächst, zugleich aber die GewinnerInnen immer höher "Belohnungen" einfahren können. Die vorliegende Ausgabe des schulhefts versucht hier gegenzusteuern und hat es sich zur Aufgabe gemacht zu hinterfragen, welche Situationen und Schicksale sich hinter der unschuldigen Etikettierung GewinnerInnen-VerliererInnen verbergen und welche Funktion die Pädagogik bei der Legitimierung dieser Dichotomie spielt.
Inhalt
Verlieren und Verlierer. Loser
Eine Skizze mit falschem Ausgangspunkt, diversen Einwendungen und vagem Schluss
Gerhard Wohlfahrt
Armut und Reichtum in Österreich
Emmerich Tálos
Armut ohne und Armut trotz Arbeit
Tibor Zenker
Die Globalisierung des Elends und das Elend der Globalisierungstheorie
Zur internationalen Verteilung von Armut und Reichtum
Soziale Ungleichheit in der Schule - Was könnte die Gesamtschule bringen?
Elke Gruber
Lebenslanges Lernen - Chancenungleichheit auf Dauer gestellt?
Lernen statt revoltieren?
Zur Paradoxie der Forderung nach Chancengleichheit beim Bildungszugang
Mario Steiner
Empirische Befunde zu den Dropouts aus dem österreichischen Bildungssystem
Un-Equal Pay und Armutsgefährdung von Frauen in Österreich
Ingolf Erler
Kindheit im Abseits: Kinderarmut im Reichtum
Paul Grabenhofer, Michael Moritz
Schule ohne Netz - aber mit doppeltem Boden?
Liberalisierung des Bildungsangebots als Chance und RisikoVorwort
AutorInnen
Redaktion
Michael Sertl
Johannes ZuberAutorInnen
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