Aus Geschichte/n lernen
Funktionen von Geschichtspolitiken
Klappentext
Wissenschaftliche, literarische und journalistische Beiträge diskutieren und kritisieren in diesem schulheft dominante Geschichtspolitiken. Es werden Geschichten vorgestellt, die für solidarische Veränderungen früherer und gegenwärtiger desaströser Zustände stehen.
Inhalt
Editorial
Elke Renner, Peter Malina
Eine Vergangenheit, die uns angeht
Die Schul-Hefte als Geschichts-Hefte
Manuel Rühle
Die Austreibung der Geschichte aus dem pädagogischen Denken
Beobachtungen zu einer gesamtgesellschaftlichen Tendenz und ihren Folgen für die Erziehungswissenschaft
Armin Bernhard
Geschichtspolitik und Erinnerungskultur
Über die Umdeutung von Geschichte als Strategie der Gewinnung kultureller Hegemonie
Matthias Rießland
„Fragen stellen“?! – Ein Experiment
Armin Bernhard
Otto Felix Kanitz: Zur unhintergehbaren Bedeutung seiner Erziehungskritik und seines sozialistischen Erziehungsmodells
Eva Kalny
Geschichtspolitiken: Selektives Erinnern und Vergessen als ideologische Basis für Kulturalisierung und Rassismus
Elisabeth Holzleithner
Anmerkungen zum „Kopftuchstreit“
Birgit Michlmayr
Rassismuskritische Geschichtsvermittlung in Wiener Regelschulen.
Strukturelle Voraussetzungen und aktuelle Strategien
Elena Messner
Die „Causa HGM“
Zur Reformdebatte rund um das Heeresgeschichtliche Museum Wien (2019–2020)
Margit Niederhuber
Die Dohnal
Elisabeth Wittenberg über die letzten Stunden Josef Gerls
Dem Vergessen entrissen
Karl Wimmler
Die Tombola
Geschichte und Geschichten
Buchempfehlungen
Karl Wimmler
Menschen, Bücher, Katastrophen
Erzählungen, Anmerkungen, Einsprüche
Statt einer Buchbesprechung:
Auszüge aus Erich Hackls „Im Leben mehr Glück. Reden und Schriften“
Michael Wengraf
Institutionalisierung der Vernunft
Zur Genese der Europäischen Universitäten
Michael Wengraf
Die rechte Revolution
Veränderte ein Masterplan die Welt?
Abschied von Horst Adam
Autor*innenverzeichnis
Editorial
Das Interesse dieses Heftes gilt Fragen an die Geschichte und an die Geschichtsschreibung, um aus verschiedenen Perspektiven dominante geschichtspolitische Erzählungen zu analysieren. Die Historizität von gesellschaftlichen Strukturen, von Konzepten, Denkweisen und Anschauungen, aber auch von Geschichtsbildern zu betonen soll auch Grundlage dafür sein, solidarische und emanzipatorische Veränderungen denken zu können.
Die vorgestellten wissenschaftlichen, journalistischen und literarischen Beiträge eröffnen ein weites Feld kritischer Beschäftigung mit Geschichte/n, die Verstrickungen in neoliberale Ideologien offenlegen und nach auf Respekt und Solidarität basierenden Herangehensweisen fragen.
Rückblickend auf 40 Jahre der schulheft-Reihe gehen Elke Renner und Peter Malina im Eingangstext Fragen nach Geschichte und Politik in Bildungsbereichen nach. Als thematische Schwerpunkte der Auseinandersetzung mit Vergangenheiten waren hier zwei Themenstränge anhaltend bedeutsam: die Beschäftigung mit Faschismus und Rechtsextremismus und Fragen der Friedensgeschichte und -pädagogik.
Manuel Rühle ortet in der sozialtechnologischen Bildungsforschung eine der neoliberalen Ideologie immanente Ausblendung der historisch-gesellschaftlichen Dimension von Erkenntnis. Er verweist daher auf das widerständige Moment einer Betonung des historisch-gesellschaftlichen Charakters der Pädagogik.
Armin Bernhard rät in seinem Beitrag, die vielfältigen Möglichkeiten der Nutzung von Geschichte ideologiekritisch aus ihrem aktuellen Interessenskomplex heraus zu erklären, um Funktionen geschichtspolitischer Strategien sichtbar zu machen. Beispielhaft behandelt er deutsche Geschichtspolitiken nach 1945 und Instrumentalisierungen der Geschichte in Regierungspolitiken.
Matthias Rießland stellt in seinem experimentellen Text Fragen an Geschichte, Geschichtsschreibung und Wissenschaft. Die Fragen sollen Raum zum (Nach- und Selbst-)Denken schaffen, wozu auch die formale Gestaltung des Beitrags einlädt.
Eine Besonderheit für dieses schulheft bescherte uns Armin Bernhard mit einem ausführlichen Artikel über den sozialistischen Pädagogen Otto Felix Kanitz (geboren 1894 in Wien, ermordet 1940 im KZ Buchenwald). Bernhard konfrontiert gegenwärtige pädagogische Ansätze mit Forderungen von Kanitz und stellt fest, dass die sozialistische Pädagogik der 1920er und 1930er Jahre über heutige Konzeptionen der Kritischen Pädagogik weit hinausgeht.
Eva Kalny untersucht vergessene Geschichten aktueller rassistischer Zuschreibungen und Stereotype im Kontext von Kolonialismus. In ihrem Text spannt sie einen Bogen von der Konstruktion von SARS-CoV-2 als „chinesischer Virus“ hin zu aktuellen Übergriffen auf als muslimisch gelesene Menschen. Sie zeigt wie Rassisierungen zugrunde liegende Vorstellungen unter dem Begriff der Kultur heute wieder auftreten.
Elisabeth Holzleithner thematisiert in ihren Anmerkungen zum „Kopftuchstreit“ aktuelle feministische Kontroversen ebenso wie die Instrumentalisierung mancher Positionen durch „konservative und ethno-nationalistische“ Politiker*innen. Sie stellt die Frage
nach der Sinnhaftigkeit von Verboten religiös motivierter Bekleidung und auch danach, wem die hierzulande geführten Debatten und durchgesetzten Regelungen letztlich nützen. Anstelle einer Symbolpolitik, die Frauenfeindlichkeit und Gewalt den ‚Anderen‘ zuschreibt, sieht sie ein umfassendes Antidiskriminierungsrecht angesagt.
Birgit Michlmayr stellt die Frage, wie ein rassismuskritischer Geschichtsunterricht in der Praxis aussehen kann. Sie diskutiert sowohl methodische Zugänge wie auch (in Schulbüchern) vermittelte Inhalte und kritisiert, dass interkulturelle Ansätze Differenzen zementieren, statt strukturellen Ungleichheiten entgegenzuwirken.
Elena Messner stellt ein besonderes Objekt, einen Hort überkommener Herrschaftsstrukturen und Geschichtsbilder inklusive rechtsextremer Einbindungen vor: das Heeresgeschichtliche Museum (HGM). Sie dokumentiert, wie schwierig es sich für engagierte, fortschrittliche Kräfte gestaltet, verantwortliche Menschen und Institutionen zu politischen Entscheidungen für Veränderungen in dieser Causa zu bewegen.
Margit Niederhuber entzündet die Erinnerung an Johanna Dohnal. In ihrem sehr persönlichen Text verweben sich historische frauenpolitische Stationen mit der Biographie Dohnals und mit der Geschichte einer Freundinnenschaft.
Ein erschütterndes Dokument austrofaschistischer Gewalt fand Willi Weinert in dem literarisch-journalistischen Interview Ernst Fabris mit Elisabeth Wittenberg, Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend und Gefährtin Josef Gerls.
Literarische Zugänge verbinden die drei letzten Beiträge:
Karl Wimmler beschreibt in der Erzählung „Die Tombola“ eine Silvesterspiel-Gepflogenheit seiner Familie und entdeckt dabei die Zugehörigkeiten der Männer aus drei Generationen zu den soldatischen Kriegsverherrlichungs-Verbänden von der Monarchie bis zum Österreichischen Kameradschaftsbund – eine entlarvende zeithistorische Spurensuche.
Der Schriftsteller Erich Hackl rezensiert Karl Wimmlers Buch „Menschen, Bücher, Katastrophen – Erzählungen, Anmerkungen, Einsprüche“ (2019) und unterstreicht Wimmlers Stärke, „Lebensgeschichten präzise, unaufgeregt und anschaulich zur Sprache und auf den Punkt zu bringen“.
Statt einer Besprechung von Erich Hackls „Im Leben mehr Glück – Reden und Schriften“ (2019) stellt Elke Renner Auszüge aus verschiedenen Texten des Buchs zusammen. Es entsteht ein Mosaik aus Geschichtsfragmenten, das zugleich Beunruhigung angesichts der Zustände und Zuversicht angesichts der Möglichkeiten solidarischen
und widerständigen Handelns hervorruft.
Rezensionen zweier Publikationen des Wissenschaftshistorikers Michael Wengraf „Institutionalisierung der Vernunft. Zur Genese der europäischen Universitäten“ (2019) und „Die rechte Revolution. Veränderte ein Masterplan die Welt?“ (2020) runden diese Ausgabe des schulhefts ab.
Autor*innenverzeichnis
Redaktion
Birgit Michlmayer
Elke Renner
Michael Rittberger
Renée Winter
Armin Bernhard, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Kritische Erziehungs- und Bildungstheorie, Pädagogik und globale Probleme, praxisphilosophische Pädagogik.
Erich Hackl, Schriftsteller, Wien und Madrid.
Elisabeth Holzleithner, Universitätsprofessorin für Rechtsphilosophie und Legal Gender Studies, Sprecherin der interdisziplinären
Forschungsplattform GAIN – Gender Ambivalent In_Visibilities, Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Rechtsphilosophie, Politische Philosophie, Legal Gender & Queer Studies, Recht, Literatur & Populärkultur.
Eva Kalny, Professorin an der Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen.
Dieter Kraft, Theologe, bis 1992 Dozent an der Humboldt-Universität zu Berlin, 10 Jahre Redaktion der Zeitschrift TOPOS. Regelmäßige Publikationen in den „Weißenseer Blättern“.
Peter Malina, Historiker, Wien.
Elena Messner, Kulturwissenschaftlerin und Schriftstellerin. In ihrem Debütroman „Das lange Echo“ thematisierte sie u.a. das Geschichtsverständnis des HGM.
Birgit Michlmayr studierte Geschichte und Französisch in Wien und Paris, ist derzeit Musikerin, Labelbetreiberin und Lehramtsstudentin.
Margit Niederhuber, Romanistin und Germanistin, Kuratorin und Dramaturgin mit Schwerpunkt außereuropäische Forschung und Kunst, Beraterin für Frauen- und Kulturprojekte im südlichen Afrika, Aufbau eines Frauenradioprogrammes in Moçambique, Theaterarbeit mit afrikanischen Autorinnen.
Elke Renner war AHS-Lehrerin und Lehrbeauftragte für Fachdidaktik der Zeit-und Sozialgeschichte und für Politische Bildung.
Matthias Rießland, Sport- und Erziehungswissenschaftler, lizensierter Feldenkrais-Pädagoge, Lehrbeauftragter an der TU Darmstadt.
Manuel Rühle, Leiter für allgemeine Erwachsenenbildung beim DGB Bildungswerk Bayern.
Karl Wimmler, Freier Autor und Mitarbeiter im CLIO, Graz.
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Studienverlag: Schulheft 181