Schulautonomie – Wohin geht die Reise?
Klappentext
Der Bildungskongress in Linz, Juni 2019, widmete sich den immer wiederkehrenden Themenbereichen der Schulentwicklung: Inklusion, Mehrsprachigkeit, Selektivität, Erziehung und Unterricht als Unterstützung zur Selbstermächtigung.
Durch die fortschreitende Neoliberalisierung der Gesellschaft spitzen sich die mit diesen Themenfeldern verbundenen Widersprüche zu – und spiegeln sich in der Schulautonomie wider: einerseits eine Autonomie, mit deren Hilfe sich Partialinteressen auf Kosten der Allgemeinheit durchsetzen, andererseits eine Autonomie, die Selbst-Ermächtigung ermöglichen und in einer wieder autoritärer werdenden Gesellschaft eine Bastion zur Verteidigung und Weiterentwicklung der Demokratie sein könnte.
Inhalt
Wohin geht die Reise?
Keynotes
Michael Sertl
Wieso Schulautonomie?
Erinnerungen an den Beginn
Josef Reichmayr
26 Jahre, zwei Monate, 17 Tage: Die lange Reise zur Schulautonomie in Österreich
Gedankenanstöße zum Linzer Kongress 2019
Lorenz Lassnigg
„Bildungsgerechtigkeit“ zwischen „Illusio“ und sozialem Fortschritt – wissenschaftlich-politisch reflektiert
Hannes Schweiger
Teilhabe durch Sprache(n)
Einige Überlegungen zu sprachlicher Bildung in der Migrationsgesellschaft
Deutschförderklassen
Publikumsbeitrag aus der Podiumsdiskussion
Volker Schönwiese
Inklusion – wohin?
Gemeinsame Schule und Inklusion
Publikumsbeiträge aus der Podiumsdiskussion
Ateliers
Nicol Gruber
Bildungsgerechtigkeit zwischen Anpassung und Emanzipation
Leuchtturmschulen und Schulwahl
Publikumsbeiträge aus der Podiumsdiskussion
Josef Reichmayr
Passé 1: EINE Lehrerin für eine Volksschulklasse
Passé 2: Die alte Langform der AHS
COOL – Cooperatives Offenes Lernen
Gabi Lener
Großbaustelle Sprachförderung
Gabi Lener
„LehrerInnenbildung neu“ – ein Feld offener Fragen
Volker Schönwiese
Open Space: Inklusives Lernen
Selma Schacht
Ganztägige Schule & Freizeitpädagogik:
Bildung im Mittelpunkt – aber welche?
Krasse Gegensätze – Halbtagsschule und Ganztagsschule
Publikumsbeiträge aus der Podiumsdiskussion
Barbara Falkinger, Ilse Rollett
Von Nahtstellen und Schnittstellen
Die Interessen der AHS-Lehrer*innengewerkschaft
Beitrag aus der Podiumsdiskussion
Franz Ryznar, Ursula Spannberger
Raumautonomie
Wer bestimmt über den 3. Pädagogen?
John Evers
Erwachsenenbildung unter Druck!?
Ein problemorientierter Diskussionsbeitrag
Wohin geht die Reise?
Podiumsdiskussion (15. Juni 2019, Linz)
Politik rahmt Schule – gelernt und gelebt wird vor Ort!
Forderungen der Plattform www.schaumonito.at – überparteiliches Netzwerk für kindergerechte Schulen
Autorinnen und Autoren
Wohin geht die Reise?
Bildungskongress der Plattform „schaumonito – Schulautonomie Monitoring. Überparteiliches Netzwerk für kindergerechte Schulen“ im Juni 2019 an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz
Als 2017 die Plattform schaumonito gegründet wurde, blickten etliche der beteiligten Akteur*innen – Pädagog*innen, Eltern, Studierende, Wissenschafter*innen, Expert*innen aus schulnahen Vereinen und (Selbsthilfe)Organisationen – bereits auf Jahrzehnte schulpolitischen Engagements in unterschiedlichsten Arenen zurück. Die zentralen Themen der Schulentwicklung blieben dabei im Wesentlichen immer die Gleichen: Inklusion, Mehrsprachigkeit, Selektivität des Schulsystems, Erziehung und Unterricht als Unterstützung zur Selbstermächtigung. Durch die fortschreitende Neoliberalisierung der Gesellschaft spitzen sich die mit diesen Themenfeldern verbundenen Widersprüche jedoch in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu, und es wird „ungemütlicher“ in der österreichischen Bildungslandschaft. Die türkis-blaue Regierung tat schließlich (bis sie sich durch das Bekanntwerden unerhörter Skandale auflösen musste) das Ihre dazu und verschärfte bestehende Gegensätze und Chancenungerechtigkeiten im Bildungssystem durch die Wiedereinführung der Ziffernnoten ab den ersten Volksschulklassen, die Segregation in Deutschförderklassen, das Wiedereinschleichen der zweizügigen Mittelschulen und den Ausblick auf Testungen und „Leistungssegregation“ vom Schuleintritt an bzw. bereits im Kindergarten.
Kann „Schulautonomie“ diesen Entwicklungen adäquat begegnen? Wir sind uns auch innerhalb unserer Plattform nicht ganz einig – nicht zuletzt, da Autonomie durchaus zwei Seiten hat. Die eine ist die neoliberale, in der Autonomie zur Streitaxt der Privilegierten wird, die mit ihrer Hilfe Partialinteressen auf Kosten der Allgemeinheit durchsetzen. Es ist auch die Selbstverwaltung des Mangels, da Schulen in den letzten Jahren unter finanziellen, personellen oder räumlichen Engpässen zu leiden hatten. Die andere Seite ist jedoch die der Selbstermächtigung, und in einer – zumindest während der letzten Legislaturperiode – spürbar autoritärer werdenden Gesellschaft können selbstbestimmte Räume der Autonomie die letzten Bastionen der Nicht-Knechtschaft sein. Wie Bernhard Lahner, Lehrer in der Integrativen Lernwerkstatt Brigittenau (ILB) und gemeinsam mit Verena Corazza (ebenfalls ILB) maßgeblicher Organisator unseres Linzer Kongresses, den der vorliegende schulheft- Band dokumentiert, anschaulich macht: „In Österreich gibt es eine Institution, die ALLE Menschen durchlaufen. Das sind neun Jahre Schule. Neun Jahre, die über die Zukunft Einzelner entscheiden. Neun Jahre, in denen Kinder und Jugendliche lernen können, die Zukunft zu gestalten oder – wie die letzten Monate gezeigt haben – neun Jahre, um zu lernen, „gusch“ zu sein, zu funktionieren, gehorsam zu sein, zu segregieren und über Notenwahrheiten zu schwadronieren. Ich will neun Jahre Zukunft, neun Jahre Perspektiven, neun Jahre Inklusion, neun Jahre Persönlichkeitsentwicklung und neun Jahre für eine solidarische Gesellschaft, die jede und jeden mit ihren/seinen Stärken und Schwächen akzeptiert, fördert und fordert. Ich will einen Raum, in dem niemand Angst haben muss, einen Raum der Teilhabe, einen Raum zum Kritischsein, einen Raum für ihre/seine Rechte aufzustehen, einen Raum, in dem jeder und jede bei Ungerechtigkeiten aufschreit und aktiv wird.“
Mit diesen Leitgedanken versuchen wir, uns bildungspolitisch zu bewegen, Positionen zu erarbeiten und zu agieren. Der Linzer Kongress im Juni 2019 war ein maßgeblicher Schritt, unsere Positionen zu schärfen und mit anderen Bildungsbewegten in Austausch zu kommen. Bei aller Vielfalt der in Linz bearbeiteten Themenbereiche zogen sich für uns erkennbar zwei zentrale rote Linien durch die gesamte Tagung:
1. Die chinesische Mauer zur Abwehr jeden Fortschritts im Bildungssystem ist die weiterhin bestehende Trennung der Schüler*innen nach der 4. Schulstufe. Diese Mauer zu durchbrechen wird gewitzter Strategien und gebündelter Kräfte bedürfen. Inklusive Settings, die Nutzung der Ressourcen von Mehrsprachigkeit, der Auf- und Ausbau echter Schuldemokratie und intelligente pädagogische Konzepte der Gestaltung des Unterrichts und der schulischen Freizeit sind unverzichtbare Brücken, die uns an dieses Ziel heranführen können.
2. Die Freiheit des/der Einzelnen wird zur Unfreiheit der Gesamtheit, wo es um die Verletzung von Chancengerechtigkeit geht. So entpuppt sich etwa die freie Elternwahl (AHS oder Mittelschule? Schule mit ganztägigem Angebot oder Halbtagsschule? Grätzlschule oder Privatschule?) als Freiheit nur für jene Eltern, die innerhalb des Bildungssystems über ausreichende Handlungsfähigkeit verfügen. Für Eltern mit – zumeist durch sozioökonomische Herkunft bedingte – geringeren Handlungsspielräumen ist die Freiheit der Wahl eingeschränkt, und so werden sie im selektiven Schulsystem zu Verlierer*innen. Freie Schulwahl durch die Eltern und soziale Gerechtigkeit im Schulsystem gehen sich also nebeneinander nicht aus.
Wer sich die in Linz bearbeiteten Themen vor Augen führt, entdeckt schnell die thematischen Lücken. Zwar war es nicht unser Anspruch, alle schulisch relevanten Themenbereiche bei einem einzigen Kongress abzuarbeiten, jedoch hätten wir eines der brisantesten Themen, das einer gendersensiblen und gendergerechten Pädagogik durchaus zu unseren Diskussionsfavoriten der ersten Stunde gezählt. Was der Realisierung eines Blocks zur Genderthematik beim Linzer Kongress im Wege stand, war schlicht die gleichzeitige Veranstaltung der Euro Pride, die die Kräfte der meisten uns nahestehenden Gender-Expert*innen auf sich bündelte. Wir werden das Thema nachholen. Ein großes Anliegen ist uns auch die Auseinandersetzung mit den Chancen und Problemen einer (Aus)Bildungspflicht bis zum Alter von 18 Jahren. Mithilfe der AK Wien sind wir daran, uns in diesem Bereich Expertise anzueignen und sinnvolle Positionen auszubilden. Im März 2020 wird unser nächster Bildungskongress, diesmal in Klagenfurt, stattfinden, und wir werden dort Gelegenheit haben, neue Themenbereiche zu bearbeiten und unser Wissen und unsere Einschätzungen weiter zu diskutieren und nachzuschärfen.
Im vorliegenden Band finden sich die Keynotes des Linzer Kongresses, ein kurzer Überblick über die thematischen Ateliers des Linzer Kongresses, Teile der Podiumsdiskussion und last but not least unsere Forderungen an die Bildungspolitik, um das österreichische Schulsystem nicht nur kindgerechter, sondern auch chancengerechter zu gestalten.
Michael Sertl versucht in einem historischen Aufriss, die Krux mit der Autonomie aufzuzeigen – ein Begriff, der in dieser Form von der Wirtschaft erdacht wurde und die Implementierung von marktwirtschaftlichen Elementen an die Schulen gebracht hat. Er spannt den Bogen von der Schulreformdiskussion über die Entstehung der alternativen und unabhängigen Lehrer*innenbewegungen und zeigt schließlich Beispiele, wo reformwillige Schulen ratlos zwischen marktwirtschaftlichen Zwängen und autonomen Nischen für eine demokratische Weiterentwicklung kämpfen. Auch stellt er die Frage, wie man mit bisher vernachlässigten Gruppen von Schüler*innen und der zunehmenden Spaltung und Polarisierung in der Gesellschaft umgeht.
Josef Reichmayr, ein unermüdlicher Kämpfer für mehr pädagogische Autonomie an Schulen, reflektiert die Entstehung der Reformbewegung und liefert eine kritische Auseinandersetzung mit dem Wording. Er sieht Schulautonomie zum einen als Etikettenschwindel und zum anderen doch als eine Chance auf Demokratisierung von Schule. Er greift die Widersprüche und die Spannungsfelder auf – er weiß, was bremst und was wachsen lässt – und gibt schließlich Auskunft über den Namen „schaumonito“.
Der Beitrag von Lorenz Lassnigg setzt sich mit dem Begriff der Gerechtigkeit auseinander, den sich alle Parteien auf ihre Fahnen geheftet haben, wobei sie sehr Unterschiedliches darunter verstehen und mit ihren Rhetoriken mehr Verwirrung als Klarheit stiften. Es wird versucht, in diesem Gestrüpp von Bedeutungen Wege auszuloten, auf denen die Diskurse um Gerechtigkeit einer fortschrittlichen Bildungspolitik Impetus geben können, und es wird gezeigt, dass eine vertiefende Auseinandersetzung mit diesen Themen im Sinne der Allgemeinbildung wie der politischen Bildung unter den Aktivist*innen wie auch unter den Lehrpersonen im Allgemeinen nötig ist.
Hannes Schweiger betrachtet das Spannungsfeld zwischen monolingual geprägter Schule und mehrsprachiger Gesellschaft, reflektiert im Kontext von Mehrsprachigkeit verwendete Begriffe und Diskurse kritisch und misst die in Österreichs Schulen umgesetzte Sprachenpolitik, wie z. B. die Deutschförderklassen, am Maßstab des Abbaus von Diskriminierungen im Sinne einer Pädagogik der Mehrfachzugehörigkeiten und Mehrsprachigkeit.
Es gibt keine Alternative zur „humanen Integration“: Mit dieser Botschaft von Zygmunt Baumann beschließt Volker Schönwiese nach einer Analyse der Vergangenheit von der Besonderung von Schüler*innen im Roten Wien, der Eugenik im 2. Weltkrieg, der Gründung von Sonderschulen und aktuellen Bestrebungen der Integration und Inklusion seine Keynote. Diese Entwicklung beschreibt Schönwiese nicht als linear, sondern als brüchig und ambivalent.
In den Ateliers, die am Samstag vormittags und nachmittags stattfanden, wurden sowohl die Themen der Keynotes aufgegriffen als auch weitere Bereiche bearbeitet, die im unmittelbaren Zusammenhang mit Autonomie bzw. im Widerspruch zum von der letzten Regierung beschlossenen Pädagogikpaket stehen, wie das kooperative Lernen, die Nahtstellen und Übergänge zwischen den Schulen, die Ressourcen für die Volksschulen oder auch die vernachlässigte Erwachsenenbildung. Nicht zu vergessen all die Handlungsfelder, wo denkende Eltern, Schüler*innen und Lehrer*innen schon lange Mitbestimmung fordern – wie bei Inklusion, Schularchitektur, ganztägiger Betreuung. Wohin geht die Reise, wenn wir die neue „gemeinsame“ Lehrer*innenbildung sehen und keine gemeinsame Schule der Sechs- bis 15-Jährigen in Sicht ist?
Barbara Falkinger, Gabi Lener, Lorenz Lassnigg
(Anmerkung: In den Beiträgen werden unterschiedlich Gender-Schreibweisen verwendet. Die Redaktion hat dies den Autor*innen freigestellt.)
Autorinnen und Autoren
Redaktion
Barbara Falkinger
Gabi Lener
Lorenz Lassnigg
John Evers, Erwachsenenbildner und Historiker
Barbara Falkinger, NMS-Direktorin in Wien, Mitherausgeberin der schulhefte
Nicol Gruber, Studium der Volkswirtschaft und Sozialpolitik, seit 2017 Referentin in der Abteilung Bildungspolitik der AK Wien. Themenschwerpunkte: Sozialpolitik, Gender und Gerechtigkeit
Lorenz Lassnigg, sozialwissenschaftlicher Bildungsforscher, Institut für Höhere Studien (IHS), Wien
Gabi Lener, leitet eine Ganztagsvolksschule in Wien
Martina Piok, Wirtschaftspädagogin, Lehrerin für kaufmännische Fächer am ibc Hetzendorf (BHAK/BHAS Wien 12), Leiterin des Impulszentrums für Cooperatives Offenes Lernen
Josef Reichmayr, Gründer und Leiter (von 1998 – 2019) der Integrativen Lernwerkstatt Brigittenau, Bildungsaktivist und Initiator von Schulautonomie Monitoring (www.schaumonito.at)
Ilse Rollett, AHS-Direktorin in Wien
Franz Ryznar, Architekt, Mediator, Prozessbegleiter, Geschäftsführer von aap.architekten, Lehrbeauftragter und Referent für Raum und Pädagogik
Selma Schacht, Diplom-Sozialarbeiterin, Betriebsratsvorsitzende bei der Bildung im Mittelpunkt GmbH. Schwerpunkte: gewerkschaftliche und kollektivvertragliche Verankerung der Freizeitpädagogik, Integration & Inklusion
Volker Schönwiese, a. o. Univ.-Prof. (i. R.), von 1983–2013 am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck tätig. Themen: Inklusive Pädagogik und Disability Studies, digitale Bibliothek (bidok), Aktivist der Selbstbestimmt Leben Bewegung
Hannes Schweiger, Ass. Prof. am Institut für Germanistik der Universität Wien, Präsident des Verbands für Deutsch als Fremdsprache/Zweitsprache (ÖDaF)
Michael Sertl, Bildungssoziologe an der Pädagogischen Hochschule Wien (i. R.), Mitherausgeber der schulhefte
Ursula Spannberger, Architektin, Mediatorin, Prozessbegleiterin, Genuine-Contact-Professional für Organisationsentwicklung, Entwicklerin von neues WOHNEN 70plus
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Studienverlag: Schulheft 177