Digitalisierung und Bildung
Materialien zu einem problematischen Verhältnis
Klappentext
Digital unterstütztes Lernen, so ein großes Versprechen, ermöglicht es, Schüler:innen besser individuell zu fördern. Eine kritische Auseinandersetzung mit Digitalisierungsprozessen offenbart jedoch, dass – angetrieben und befeuert durch die ökonomische Macht der großen digitalen Player – aktuell vor allem vorhandene Trends zur Individualisierung von Verantwortung und Kompetenzorientierung befördert werden. Dabei bleiben, so die Essenz dieses schulhefts, solidarisches Lernen und Bildung im Sinne einer Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen zunehmend auf der Strecke.
Inhalt
Editorial
Grundsätzliches
Sieglinde Jornitz, Felicitas Macgilchrist
Datafizierte Sichtbarkeiten und schulische Praxis
Was die Digitalisierung (un)sichtbar macht
David Haselberger, Fares Kayali
Dorothy und die Zauberer der Digitaltechnik
Zur Dialektik der digitalen Bildung
Käte Meyer-Drawe
Im Verborgenen lernen: Künstliche Intelligenz
Juliana Rossi Duci, Luiz A. Calmon Nabuco Lastória,
João Mauro G. V. de Carvalho
Eine Phantasie der Allmacht
Vom Versprechen des an die Technologie angepassten Lernens
Politische Aspekte
Katarina Froebus, Daniela Holzer
Universitäre Online-Lehre: Machtverschiebungen und neue Disziplinierungsräume
Inken Heldt
Mehr als Fake News, Facebook und Filterblasen
Politische Bildung in einer von Digitalität geprägten Welt
Fokus Schule
Gesine Kulcke
Vom Schmuddelheftchen zum Schmuddelvideo
Vorstellungen von Lehramtsstudent:innen über das Internet
Annina Förschler, Sigrid Hartong, Anouschka Kramer, Claudia Meister-Scheytt und Jaromir Junne
Wie wirken datengetriebene Lernplattformen?
Das Beispiel «Antolin»
Heike Deckert-Peaceman, Gerold Scholz
Click and Drop. Über schulisches Wissen am Beispiel der Lernplattform Anton
Lydia Brack, Gesine Kulcke
Die Rede über Erklärvideos
Von der Exklusion des lernenden Subjekts
Eva Neureiter
Freie Medien und Bildungsarbeit
Autor:innen dieser Ausgabe
Editorial
Mit der Feststellung, dass in der aktuellen Debatte über Digitalisierungsprozesse, die den Bildungsbereich betreffen, bildungstheoretische Annahmen und Erkenntnisse immer wieder übergangen werden, haben wir für die aktuelle Ausgabe des Schulhefts vor allem versucht, einen bildungstheoretischen Zugriff auf das Thema in den Vordergrund zu stellen.
In der von politischen Entscheidungsträger:innen forcierten „Digitalisierungsoffensive“ erkennen wir einen verstärkten bildungspolitischen Ein- bzw. Angriff zugunsten von Kompetenzorientierung und Individualisierung, der sichtbar zu machen ist. Hervorgebracht wird ein „Bildungs“-Verständnis, das mit einem aufklärerischemanzipatorischen Bildungsbegriff nicht mehr viel zu tun hat. Diese Verkürzung von Bildung, Schule und Digitalisierung bildet sich auch auf den Wirtschaftsseiten der Tagezeitungen ab, wenn z.B. die (österreichische) Online-Nachhilfe-Firma GoStudent als „die größte Schule der Welt“ vorgestellt wird. Im Digitalisierungsdiskurs wird hier ein Nachhilfe-Institut, das online und tendenziell global agiert, mit Schule gleichgesetzt. Dieser Verkürzung wollen wir etwas entgegensetzen.
Thema ist für uns aber auch die ökonomische Privatisierung, denn neben den Schulbuchverlagen erobert mit den IT-Konzernen
eine zweite, im Vergleich zu den Verlagen deutlich finanzstärkere Gruppe von Playern die Bühne. Schulbuchverlage und IT-Konzerne arbeiten inzwischen gut zusammen. In von Unternehmen bereitgestellten digitalen Lernumgebungen werden Learning Analytics und Visualisierungssoftware eingesetzt, die Lerndaten multidimensional und übertragbar darstellen. Es kommt offensichtlich zu einer Verquickung von Interessen privater Konzerne mit der grundsätzlich staatlichen Bildungspolitik.
Unter den Autor:innen, die wir für unser Vorhaben gefunden haben, sind u.a. Gründer:innen der Netzwerkinitiative UNBLACKTHEBOX (unblackthebox.org), die ihr Programm schon im Namen trägt. Es geht darum, einen Zugang zu den oft verdeckten Logiken, Prozessen und gesellschaftlichen Zusammenhängen von Datafizierung und Digitalisierung, Algorithmen und KI zu ermöglichen. Wir empfehlen unseren Leser:innen unbedingt, die Dienste dieser Initiative
zu nutzen.
Die Beiträge dieser Nummer haben wir in drei Kapitel gegliedert: 1. Grundsätzliches; 2. Politische Aspekte; 3. Fokus Schule.
Ganz im Sinne der oben genannten Initiative liefern Sieglinde Jornitz und Felicitas Macgilchrist im ersten Beitrag Datafizierte Sichtbarkeiten und schulische Praxis Einblicke in die Mechanismen und Prozesse, die vor, auf und hinter der Bühne des digital unterstützen Unterrichts ablaufen. Ausgehend von Foucaults Überlegungen – Stichwort Panopticon – analysieren die Autorinnen die konkreten digitalen Anwendungen einer Lehrerin. Darüber hinaus zeigen sie auf, welche digitalen Player auf den diversen Clouds der unsichtbaren Hinterbühne mitspielen.
In ihrem Essay Dorothy und die Zauberer der Digitaltechnik legen die beiden Informatiker David Haselberger und Fares Kayali ihre Überlegungen zu einer kritischen Didaktik digitaler Bildung dar. Ihre Absicht ist es, die Scheu, die viele von uns beim Stichwort „Digitalisierung“ befällt, zu entzaubern, also die naturwissenschaftlichtechnische Grundlage als hinterfragbar darzulegen.
Käte Meyer-Drawe zieht in ihrem Essay Im Verborgenen lernen: Künstliche Intelligenz Parallelen zwischen der „epistemischen Opazität“, also der Nicht-Durchschaubarkeit, von KI und der Erkenntnis, dass Lernen grundsätzlich im Verborgenen stattfindet. Ihre Thesen lösten bei den Redaktionssitzungen Diskussionen aus, die wir gerne weiterführen würden. Dazu laden wir alle Leser:innen ein. Bitte schicken Sie uns Ihre Beiträge per Mail an kontakt@schulheft.at. Wir werden auf unserer Homepage www.schulheft.at ein Diskussionsforum einrichten, in dem wir uns zugesandte Beiträge veröffentlichen.
Sozusagen die Kehrseite des Verborgenen, nämlich die Allmachtsphantasien, beleuchten Juliana Rossi Duci, Lutz A. Calmon, Nabuco Lastoria und Joao Mauro de Carvalho in ihrer Analyse des Webauftritts der Lernplattform Moodle: Eine Phantasie der Allmacht. Ziel ihrer Analyse ist es, die dargestellte Ermächtigung des Subjekts als leer und im Endeffekt als Verherrlichung neoliberaler Entwürfe vom Individuum zu entlarven.
Um Ermächtigung bzw. Machtverhältnisse geht es auch im ersten Beitrag im Abschnitt Politische Aspekte. In ihrer Studie zur Universitären Online-Lehre: Machtverschiebungen und neue Disziplinierungsräume legen Katarina Froebus und Daniela Holzer dar, welche Veränderungen die unfreiwillige Verlegung der Lehre in den virtuellen Raum mit sich gebracht haben, und versuchen eine erste kritische Einschätzung.
Inken Heldt wendet sich in ihrem Beitrag Mehr als Fake News, Facebook und Filterblasen: Politische Bildung in einer von Digitalität geprägten Welt gegen die weitverbreitete Sprachregelung und Gegenüberstellung von „digitaler“ und „analoger“ Bildung. Sie präsentiert eine systematische Darstellung des Lernens „mit“ und „über“ digitale Medien und diskutiert die Implikationen für die Politische Bildung.
Ein geplanter dritter Artikel über feministische Aspekte der Digitalisierungsproblematik ist leider nicht zustande gekommen.
Dem Abschnitt Fokus Schule haben wir fünf Beiträge zugeordnet. Dazu gehört der Aufsatz Vom Schmuddelheft zum Schmuddelvideo. Vorstellungen von Lehramtsstudent:innen über das Internet, in dem Gesine Kulcke ausgehend von Ergebnissen aus ihrem Dissertationsprojekt eine Ausdifferenzierung der vorschnellen Annahme präsentiert, (angehende) Lehrkräfte würden das Potenzial digitaler Medien für den Grundschulunterricht nicht erkennen, weil sie diese auf Lehr- und Lernwerkzeuge reduzierten und trotz aktueller Digitalisierungsprozesse in ihrem Unterricht weiterhin von einer Buchkultur ausgingen.
Der Beitrag mit dem Titel Wie wirken datengetriebene Lernplattformen? Das Beispiel «Antolin» von Annina Förschler, Sigrid Hartong, Anouschka Kramer, Claudia Meister-Scheytt und Jaromir Junne beschreibt die Analyse des Leseförderprogramms Antolin, mit der die Autor:innen die Regulierung von Bildung, Praktiken und Beziehungen durch ein von Daten und Algorithmen geprägtes Gesamtgefüge herausarbeiten.
Heike Deckert-Peaceman und Gerold Scholz nennen ihren Aufsatz Click and Drop. Über schulisches Wissen am Beispiel der Lernplattform Anton. Sie beschreiben die Nutzung der App, um das in dieser für den Sachunterricht aufbereitete Thema Wasser mit der Aufbereitung in verschiedenen Schulbüchern aus den vergangenen 20 Jahren vergleichen zu können. Dabei wird deutlich, dass das digital hervorgebrachte didaktische Konzept von Anton eingebunden ist in eine Entwicklung, die sich bereits in analogen Schulmaterialien abzeichnet.
In Die Rede über Erklärvideos: Von der Exklusion des lernenden Subjekts verweisen Lydia Brack und Gesine Kulcke darauf, dass „Bildung als eine soziale Praxis verstanden werden muss, die auf den Anderen als Bedingung für ein responsives Antwortverhalten angewiesen ist“ (Schröder 2021, 98). Sie leiten daraus die von ihnen diskursanalytisch
bearbeitete Frage ab, welche Interaktionsmöglichkeiten zwischen Lehrkraft und Schüler:innen in aktuellen pädagogischen und fachdidaktischen Texten über Erklärvideos hervorgebracht werden.
Eva Neureiter nimmt als Radiomacherin und Lehrerin die Fachtagung Freie Medien und Bildungsarbeit zum Anlass, Freie Radios, den Schülerradiotag und die zunehmende Popularität von Podcasts in ihrer Bedeutung für die Umsetzung des neuen Lehrplans für Digitalisierung zu präsentieren.
Literatur
Schröder, S. (2021). Die Vermessung des Lernens. Objektivierung und Subjektivierung in digitalen Lernplattformen. In: Pädagogische Korrespondenz, 63 (1). 85–110.
Autor*innen dieser Ausgabe
Redaktion
Tobias Becker
Florian Jilek-Bergmaier
Gesine Kulcke
Eva Neureiter
Michael Sertl
Tobias Becker, Volksschullehrer in Wien.
Lydia Brack, Erziehungswissenschaftlerin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Forschungsschwerpunkte: Professionalisierung, Subjektivierung, Bildung und Digitalität.
João Mauro Gomes Vieira de Carvalho, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe „Teoria Crítica: tecnologia, cultura e formação“, São Paulo State University (Unesp), School of Humanities and Sciences, Araraquara.
Heike Deckert- Peaceman, Professorin für Erziehungswissenschaft/Grundschulpädagogik und Kindheitsforschung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Arbeitsgebiete: Grundschulpädagogik, Curriculum Studies, Kindheitsforschung, Holocaust Education.
Juliana Rossi Duci, Dozentin für Pädagogik an der Faculdade SESI de Educação, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centro de Educação e Ciências Humanas, Universidade Federal de São Carlos (UFSCar), Forschungsgruppe „Teoria Crítica e Educação“.
Annina Förschler, Doktorandin an der Professur für Soziologie, insb. Transformation von Governance in Bildung und Gesellschaft an der HSU Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Datafizierung und Digitalisierung von Bildung und Bildungsadministration, Policy Network Analysis.
Katarina Froebus war bis 2021 Universitätsassistentin am Institut für Bildungsforschung und PädagogInnenbildung der Universität Graz. Sie arbeitet zu ungleichheitssensibler Professionalisierung, kritischer Bildungstheorie nach der Subjektkritik sowie Kollektiver Erinnerungsarbeit und biographisch-reflexiven Zugängen zu Bildungsungleichheit.
Sigrid Hartong, Prof. für Soziologie, insb. Transformation von Governance in Bildung und Gesellschaft an der HSU Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Datafizierung und Digitalisierung von Bildung und Gesellschaft, algorithmische Steuerung, international vergleichende Forschung.
David Haselberger unterrichtet Software Engineering am Technologischen Gewerbemuseum Wien. An der Universität Wien gestaltet er als externer Lektor Diskursräume zu sozialen Aspekten der Informatik.
Inken Heldt lehrt und forscht als Juniorprofessorin mit den Schwerpunkten Diskriminierungs-kritik und Menschenrechte, Digitalisierung und internationale Dimensionen der Politischen Bildung an der Universität in Kaiserslautern und hatte 2019–2020 eine Gastprofessur für Digital Citizenship Education an der Universität Wien inne.
Daniela Holzer ist Assoziierte Professorin im Arbeitsbereich Erwachsenen- und Weiterbildung am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz. Ihre Forschungen richten einen kritischen Blick auf Erziehungswissenschaft und Erwachsenenbildung in aktuellen Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnissen.
Florian Jilek-Bergmaier ist Lehrer an einer Mittelschule in Wien und schulheft-Mitherausgeber.
Sieglinde Jornitz arbeitet als Erziehungswissenschaftlerin am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt/Main. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf internationalen Reformmaßnahmen und ihren Auswirkungen auf die Schulpädagogik in Deutschland.
Jaromir Junne, Institut für Controlling und Unternehmensrechnung an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, forscht zur Steuerung von Digitalisierungsprozesse in öffentlichen und gemeinnützigen Organisationen.
Fares Kayali ist Professor für Digitalisierung im Bildungsbereich und Gründer des Computational Empowerment Labs am Zentrum für Lehrer:innenbildung der Universität Wien. Seine Forschung und Lehre finden im interdisziplinären Spannungsfeld zwischen Informatik, Didaktik und Gesellschaft statt. Dabei beschäftigt er sich unter anderem mit Nutzer:innen-zentriertem Design, kritischen Aspekten des digitalen Wandels und digitalen Spielen.
Gesine Kulcke, Institut für Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, forscht und lehrt zu Medien im Kontext von Grundschul- und Kindheitspädagogik.
Luiz A. Calmon Nabuco Lastória, Prof. für Sozial- und Erziehungspsychologie an der São Paulo State University (Unesp), School of Humanities and Sciences, Araraquara, Koordinator in der Forschungsgruppe „Teoria Crítica: tecnologia, cultura e formação“.
Felicitas Macgilchrist leitet die Forschungsabteilung „Mediale Transformationen“ am Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut. Sie forscht an der Schnittstelle von Medien und schulischer Bildung mit einem besonderen Fokus auf dem sozialen und politischen Kontext von Bildung in der digitalen Welt.
Claudia Meister-Scheytt, Institut für Personal und Arbeit an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, forscht zu Personalentwicklung und Governance in Bildungsorganisationen.
Käte Meyer-Drawe ist Univ.-Professorin i. R. für Allgemeine Pädagogik an der Ruhr-Universität Bochum und ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. https//orcid.org/0000-0003-4265-4590.
Eva Neureiter, Volksschullehrerin in Wien, Freinetpädagogin, Radiomacherin, regelmäßige Teilnehmerin der Fachtagung „Freie Medien und Bildung“.
Gerold Scholz, Prof. für Erziehungswissenschaft/Grundschulpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt/M. (i.R.). Arbeitsgebiete: Kindheitsforschung, Theorie der Didaktik des Sachunterrichts.
Michael Sertl, Prof. für Humanwissenschaften an der PH Wien (i.R.), ehemaliger Hauptschullehrer, Soziologe. Forschungsschwerpunkte: Schule und soziale Ungleichheit, soziologische Theorie der Schule und des Unterrichts.
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Studienverlag: Schulheft 188