Sonderpädagogik
vorwärts – rückwärts
Klappentext
Positionen im Spannungsfeld von individueller Förderung und Abbau von Leistungs- und Normalisierungsdruck auf der einen, Vermeidung von schulischem und gesellschaftlichem Ausschluss auf der anderen Seite werden im vorliegenden schulheft aus pädagogischer und bildungspolitischer Sicht diskutiert. Wie lassen sie sich begründen, in welcher Tradition stehen sie und welche Perspektive lässt sich gemeinsam mit Betroffenen, ihren Eltern und Pädagog*innen in einem zunehmend wieder exklusiver werdenden Bildungssystem avisieren?
Inhalt
Vorwort
Tobias Buchner & Christine Steger
Bemühungen, Baustellen und Barrieren: Inklusive Bildung und die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
Rupert Corazza
Gerecht, fair, tolerant, offen und sozial inklusive
Rainer Grubich
Was ist das BeSONDERe an der SONDERpädagogik?
Michael Rittberger
Die Geschichte der Sonderschulen und der Sonderpädagogik
Susanne Tomecek
Pädagog*innenbildung Neu im Bereich Primarstufe/Inklusive Pädagogik/Sonderpädagogik – ein Mehr oder ein Weniger im Vergleich zur bisher getrennten Ausbildung?
Michelle Proyer
Inklusive Lehrer*innenbildung zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Anmerkungen zur Implementierung des Studiengangs Inklusive Pädagogik (Fokus Beeinträchtigung)
Michael Rittberger
Und nach der Schule?
Petra Flieger
„Eine inklusive – alle Bildungsebenen umfassende – Strategie fehlte.“
Der Bericht des Rechnungshofs zu inklusiven Modellregionen
Barbara Falkinger, Gabi Lener, Petra Neuhold
Immer noch die Dummen.
Ein soziologischer Essay zum Thema institutionalisierte Sonderpädagogik.
Die Schule produziert Lernbehinderungen!
Interview mit Jasmina Pavlovic
Elternnetzwerk Wien
Beratung am Übergang Schule – Beruf
Lobby4kids – Kinderlobby stellt sich vor
Astrid Jane Rieger
Institutionen und Selbsthilfegruppen für Entwicklungsverzögerungen
Petra Flieger
Integration Tirol:
Verein und Familienberatungsstelle
Buchbesprechung
Petra Flieger, Claudia Müller (Hg.)
Basale Lernbedürfnisse im inklusiven Unterricht.
Ein Praxisbericht aus der Grundschule.
2016. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
Autor*innenverzeichnis
Vorwort
Es liegt in der Tradition der schulhefte, alle paar Jahre eine Nummer zu einem sonderpädagogischen Thema herauszugeben. Zum Zeitpunkt des Beschlusses, wieder ein derartiges Heft zu gestalten, bestanden große Unsicherheiten: Wie sollte etwa die von der UNO beschlossene Behindertenrechtskonvention in der Schule nun umgesetzt werden, wie wird die neue Ausbildung künftiger Lehrer*innen im Bereich der Sonderpädagogik aussehen und wird nicht durch schulische Inklusion die institutionalisierte Sonderpädagogik an sich in Frage gestellt?
In der UN-Behindertenrechtskonvention geht es nämlich unter anderem nicht mehr um die Integration von ausgegrenzten Schüler*innen, sondern darum, von vornherein allen Kindern die uneingeschränkte Teilnahme an allen schulischen Aktivitäten möglich zu machen. Das schulische Leben aller muss von vornherein für alle Kinder, inklusive derer mit Behinderungen, als gemeinsames Sein ermöglicht werden. Eine spezielle „Behandlung“ von Kindern mit besonderen Bedürfnissen könnte unter diesem Aspekt obsolet werden.
Die in Folge entstandene Redaktion, bestehend aus Lehrer*innen, Direktor*innen und anderen Fachleuten im sonderpädagogischen Bereich, beschloss, sich auf die Betrachtung der sonderpädagogischen Betreuung jener Kinder zu konzentrieren, die über keine Lobby verfügen können, also im Wesentlichen auf die Kinder, die vormals als „lernbehindert“ bezeichnet wurden, heute aber besonders und zunehmend emotionaler und sozialer Förderung bedürfen. Wir forschten zunächst nach, wie die derzeitige Gesetzeslage, die dem sonderpädagogischen Tun und speziell auch der Inklusion zugrunde liegt, aussieht, wie diese in den einzelnen Bundesländern gehandhabt wird und wie sich heute die Ausbildung der zukünftigen Lehrer*innen gestaltet, bestand doch die Befürchtung, dass sich diese verschlechtert habe.
Ein Blick auf die Geschichte zeigt interessanterweise, dass die „Urväter“ der Pädagogik eine allgemeine, nicht aber eine spezielle Pädagogik erdachten. Comenius wollte zum Beispiel allen alles beibringen, die von ihm entwickelten Materialien schließen keine Kinder aus. Die Didaktiken Rousseaus und Herbarts ebenfalls nicht, sie sahen allerdings auch keine schulische Bildung vor. Das nach Gesellschaftsschichten gegliederte Bildungssystem Humboldts enthielt keine wie immer geartete Sonderschule. Trotzdem wurden dann doch zuerst für blinde und taube Kinder und in Wien ab 1920 Sonderschulen in allen heute bekannten Sparten eingerichtet.
Heute erscheint es manchmal wie willkürlich, ob Kinder sonderpädagogisch betreut werden oder nicht, auch bei ganzen Gruppenkann die Grundlage der jeweiligen Zuschreibung im Unklaren bleiben. Dazu gibt es soziologische und linguistische theoretische Ansätze und empirische Untersuchungen, die das Warum klären und hier einer kollektiven Inklusion den Weg bereiten können.
Tobias Buchner und Christine Steger versuchen den österreichischen Weg für die Transformation des Bildungswesens entsprechend der UN-Behindertenrechtskonvention zu skizzieren und zeigen das beinah unmögliche Unterfangen, Inklusion und das Recht auf Bildung für Menschen mit Behinderung in der Schule zu implementieren, ohne dass dieser Barrierenabbau als gesamtgesellschaftlicher Prozess gesehen wird.
Ausgehend vom Kapitel „hochwertige Bildung SDG 4“ der Agenda 2030, eine inklusive und gleichberechtigte hochwertige Bildung auf allen Ebenen zu gewährleisten, führt Rupert Corazza durch die institutionellen, finanztechnischen und pädagogischen Grundlagen einer bedingungslosen Inklusion. Die unbegrenzte Fähigkeit zur Bildung präge den Menschen. Es müsse erlaubt sein und es sei notwendig, in einer freien und demokratisch legitimierten Gesellschaft Unterschiede zuzulassen, aber es seien zugleich auch die notwendigen Assistenzsysteme angemessen zur Verfügung zu stellen, um Bildung zu ermöglichen. Es gehe um eine gerechte, faire, tolerante, offene und sozial inklusive Welt, in der für die Bedürfnisse der Schwächsten gesorgt wird.
Rainer Grubich geht in seinem Beitrag der Frage nach, was das inhärent Besondere an der Sonderpädagogik ist und wie sich diese als Begriff historisch entwickelte. Er legt die hinter dem Begriff liegenden pädagogischen und didaktischen Implikationen dar, unterzieht sie einer kritischen Analyse und stellt schließlich theoretisch fundierte Überlegungen zu einer Inklusiven Pädagogik an. Mit einem kritischen Blick auf die derzeitigen Entwicklungen im Schulsystem schließt er seinen Beitrag ab.
Michael Rittberger beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Geschichte der Sonderpädagogik bzw. deren schulischer Institutionalisierung in Österreich im Spannungsfeld zwischen Förderung, Disziplin und Verwertbarkeit von Arbeitskraft.
Susanne Tomecek und Michelle Proyer widmen sich den neuen Ausbildungen im Primarstufenbereich und in der Sekundarstufe I, zumal die Ausbildung zur Sonderpädagogin/zum Sonderpädagogen nicht mehr existiert.
Im Beitrag „Und nach der Schule?“ geht Michael Rittberger der Frage nach, wie es um die weitere berufliche Laufbahn von Schüler*innen bestellt ist, die in der Schule zumindest in einem Fach einen Sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF) zugesprochen bekamen und daher keinen Pflichtschulabschluss aufweisen können. Der Autor bezieht sich größtenteils auf eine Studie, die von Doris Landauer im Auftrag des Arbeitsmarktservices (AMS) erstellt wurde. Dabei zeichnet sich für die betroffene Kohorte eine eher pessimistische Realität ab.
Petra Flieger referiert aus dem aktuellen Rechnungshofbericht zu inklusiven Modellregionen und stellt dessen wichtigste Ergebnisse pointiert zur Diskussion. Besonders bemerkenswert ist ihre aus dem Bericht abgeleitete Conclusio zur Finanzierbarkeit von inklusiver Schule.
In ihrem Essay „Immer noch die Dummen“ gehen Barbara Falkinger, Gabi Lener und Petra Neuhold auf das in Österreich historisch geprägte institutionelle Sonderschulwesen ein, welches nicht bloß zufällig auf Exklusion setzt. Mit ihrem Beitrag zeigen die drei Autorinnen, dass der verklärte „Schonraum SPF“ nicht unbedingt dazu beiträgt, eine stressfreiere Atmosphäre oder ein tempoangepasstes Lernen für diese „beeinträchtigten“ Schüler*innen zu schaffen. Vielmehr dürfte der Befund „SPF“ sehr eng mit (sprachlichem) Rassismus und Klassismus verwoben sein, da überproportional häufig an Kinder aus ärmeren, sozial benachteiligten und „migrantischen“ Milieus ein solcher Befund „vergeben“ wird. Mit der Stigmatisierung „SPF“ werden die bestehenden Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse in unserer Gesellschaft nur noch mehr konsolidiert.
Im Interview mit Jasmina Pavlovic, der Obfrau des Vereins Vida Pavlovic stellt Barbara Falkinger Fragen zu den Hintergründen und Kriterien der Vergabe eines SPF insbesondere bei der Minderheit der Roma. Pavlovic zeigt die oftmals voreilige Fehleinschätzung der Akteur*innen im Bildungsbereich auf, welche weitreichende negative Folgen für diese Bevölkerungsgruppe nach sich zieht.
Im folgenden Teil des vorliegenden Bandes werden Initiativen vorgestellt, die sich mit sonder*pädagogischen Fragestellungen beschäftigen und*oder Betroffenen beistehen, um trotz aller gesellschaftlichen Segregation sinnvolle Bildungswege beschreiten zu können.
Das Elternnetzwerk Wien ist ein Beratungs- und Vernetzungsprojekt am Übergang Schule – Beruf für Eltern und Angehörige von Jugendlichen mit Behinderungen zwischen 13 und 25 Jahren und für Jugendliche selbst.
Die Lobby4Kids, vorgestellt von Irene Promussas, beschäftigt sich mit Vernetzung, Unterstützung bei medizinischen Erfordernissen, Inklusion im Bildungsbereich, Sozial- und Versicherungsrecht und vielen anderen Fragen, die für Menschen mit Behinderung besondere Herausforderungen darstellen können.
Astrid Jane Rieger bietet in ihrem Beitrag einen Überblick über Selbsthilfegruppen für Eltern, deren Kinder von einer Entwicklungsverzögerung betroffen sind.
Der Verein Integration Tirol, ein Zusammenschluss betroffener Eltern, die für die (schulische) Integration ihrer Kinder kämpfen und zugleich eine Familienberatungsstelle sind, wird von Petra Flieger vorgestellt.
Clemens Dannenbeck stellt das von Petra Flieger und Claudia Müller herausgegebene Buch „Basale Lernbedürfnisse im inklusiven Unterricht. Ein Praxisbericht aus der Grundschule“ vor und regt damit den weiteren Gestaltungswillen einer inklusionsorientierten Lebenswelt an.
In den einzelnen Beiträgen werden unterschiedliche Gender-Schreibweisen verwendet. Die Redaktion hat dies den Autor*innen freigestellt.
Autor*innenverzeichnis
Redaktion
Florian Jilek-Bergmaier
Barbara Falkinger
Rainer Grubich
Gabriele Lener
Michael Rittberger
Tobias Buchner ist Senior Lecturer am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien und Mitglied des Unabhängigen Monitoring Ausschusses zur Überwachung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Rupert Corazza, Lehramtsstudium an der Pädagogischen Akademie des Bundes in Wien, Studium der Philosophie und Pädagogik an der Universität Wien. Fachbereich Inklusion, Divesität und Sonderpädagogik. Bildungsforscher in der Bildungsdirektion für Wien. Ehemals Landesschulinspektor für Inklusion. Bildungsforscher im Stadtschulrat für Wien. Zahlreiche Tätigkeiten im schul- und bildungsnahen Bereich. Forschungsschwerpunkte: Inklusiv- und Sonderpädagogik, Leseforschung, empirische Bildungsforschung, philosophische Grundlagenforschung.
Clemens Dannenbeck ist seit 2002 Professor für Soziologie und Sozialwissenschaftliche Methoden und Arbeitsweisen in der Sozialen Arbeit an der Hochschule (FH) Landshut, University for Applied Sciences.
Barbara Falkinger arbeitete 25 Jahre in NMS-Integrationsklassen und ist jetzt Schulleiterin an einer NMS in Wien, sie ist Mediatorin.
Petra Flieger hat als Sonderschullehrerin mehrere Jahre in Integrationsklassen gearbeitet. Seit 1998 beschäftigt sie sich als freie Sozialwissenschafterin mit Fragen der Gleichstellung und Integration von Kindern und erwachsenen Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen der Gesellschaft. An der Universität Innsbruck hält sie im Rahmen der Schwerpunktsetzung Inklusive Pädagogik eine Lehrveranstaltung zum Thema Partizipative Schulkultur.
Rainer Grubich ist Professor an der Pädagogischen Hochschule Wien; Koordinator des Büros für Inklusive Bildung (BIB) an der PH Wien. Lehramt für Volksschulen, Studium Pädagogik / Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Wien; Doktoratstudium der Philosophie und Pädagogik an der Universität Wien; Arbeitsschwerpunkte: Inklusive Pädagogik, Umgang mit Heterogenität, Integrative Beschulung von Schüler*innen mit Autismus-Spektrum-Störung.
Gabriele Lener ist Soziologin und arbeitet als Schulleiterin in einer inklusiven Ganztagsvolksschule in Wien.
Petra Neuhold ist Lehrerin und Soziologin. Sie lebt in Wien.
Jasmina Pavlovic ist langjährige Aktivistin und Obfrau des Romavereins Vida Pavlovic, Roma- Mediatorin, Trainerin, Projektleiterin und Kursleiterin, Lernhilfe für Romakinder, Mitarbeit im Dialog-Forum, Behördenbegleitung und Übersetzerin für Romanes und BKS.
Irene Promussas ist Pharmazeutin, Gründerin und Vorsitzende von Lobby-4Kids und freie Redakteurin.
Michelle Proyer ist Assistenzprofessorin (Tenure Track) für Inklusive Pädagogik am Zentrum für Lehrer*innenbildung am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Intersektion Kultur und Behinderung.
Astrid Jane Rieger ist Soziologin und Prozessbegleiterin (PZP) und lebt und arbeitet in Wien.
Michael Rittberger ist Integrationslehrer in Ruhestand, Promotion in Erziehungswissenschaft 2004.
Christine Steger ist Vorsitzende des Unabhängigen Monitoring Ausschusses zur Überwachung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und Leiterin der Abteilung Disability und Diversity der Paris Lodron Universität Salzburg.
Susanne Tomecek ist Lehrende an der Pädagogischen Hochschule Wien und Koordinatorin im Schwerpunkt Inklusion/Sonderpädagogik. Studium der Pädagogik und Sonder- u. Heilpädagogik (Universität Wien) Lehramt für Allgemeine Sonderschule und für Hauptschule.
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