Transformation, Demokratie und Politische Bildung
Klappentext
Dieses schulheft untersucht das Verhältnis von politischer Bildung und Transformation. Prozesse der gesellschaftlichen Veränderungen gehen stets einher mit Krisen, Chancen und Herausforderungen sowie mit Veränderungen im menschlichen Bewusstsein und Handeln. Politische Bildung muss sich dieser Prozesse bewusst sein und sie im pädagogischen Sinne auch begleiten, damit kritisches Denken, aktive Bürger:innenbeteiligungen, Engagement für soziale und klimatische Gerechtigkeit, oder kurz gesagt, damit eine lebendige Demokratie gefördert wird.
In diesem schulheft nähern sich Autor:innen dem Thema in ihren Beiträgen sowohl aus einer theoretisch-konzeptionellen als auch aus einer praxisorientierten Perspektive und werfen so Schlaglichter auf sehr verschiedene Aspekte dieses breiten Feldes.
Inhalt
Editorial
Theorie
Stefanie Fridrik und Tobias Doppelbauer
Transformative politische Bildung in Zeiten der multiplen Krise
Ein angehendes Forschungsprojekt
Lara Kierot
Selbst- und Weltverhältnisse verstehen lernen
Möglichkeitsräume einer transformativen und kritisch-emanzipatorischen Pädagogik
Petra Kolb
Proteste – eine Form der präfigurativen Bildung?
Eine Analyse vor einem radikaldemokratischen Hintergrund
Josef Mühlbauer
Zum ambivalenten Verhältnis von politischer Bildung und Transformation
Jens Kastner
Transformation durch Bildungsprozesse
Lernen und Wissen bei Pierre Bourdieu und Jacques Rancière
Praxis
Selma Schacht und Samuel Kammermeier
Der Arbeitskampf zur Freizeitpädagogik-Novelle
Selbstermächtigung und politische Bildung von unten
Alexander Hoffelner
Zum Verhältnis von Pädagogischer Improvisation und Demokratiepädagogik
Der Versuch einer Begründung auf Basis transformatorischer Bildungsprozesse
Reinhard Stähling
Schulintern den Umbau über Jahrzehnte organisieren
Eine Perspektive aus der Praxis der Schule in Berg Fidel
Ronald H. Tuschl
Transformative Bildung in der pädagogischen Praxis
Der Universitätslehrgang „Global Citizenship Education“
Wolfgang Hofkirchner
Das Institute for a Global Sustainable Information Society
Transformative Bildung aus der Perspektive eines praxisorientierten Akteurs
Das Demokratiezentrum Wien
Autor:innen dieser Ausgabe
Editorial
Dieses schulheft gibt einen Einblick in das breite Feld der Transformation, dem grundlegenden Wandel von politischen, gesellschaftlichen, und wirtschaftlichen Systemen, und versucht die Rolle der politischen Bildung in Zusammenhang mit Transformationsprozessen zu erörtern. Diese sind mit tiefliegenden Veränderungen im Bewusstsein und Handeln von Individuen in Bezug auf politische, soziale und kulturelle Ordnungen und Strukturen verbunden. Politische Bildung in diesem Kontext muss also über das bloße Vermitteln von Fakten und Daten hinausgehen und darauf abzielen kritisches Denken, aktive politische Bürger:innenbeteiligung und das Engagement für soziale und klimatische Gerechtigkeit zu fördern. Lernende werden dabei ermächtigt nicht nur passive Beobachter der Transformation zu sein, sondern aktiv und bewusst an der gesamtgesellschaftlichen Veränderung teilzunehmen.
Was ist folglich eine politische Bildung, die Transformation und deren bewusste und aktive Gestaltung ermöglicht? Die grundlegenden Eckpfeiler dieses Ansatzes können wie folgt beschrieben werden (vgl. hierzu u.a. Freire 1975, Mezirow 1991, Oelkers 2000): Durch die Förderung von kritischem Denken können Lernende gesellschaftliche Strukturen und vor allem Macht- und Herrschaftsverhältnisse erkennen und hinterfragen. Das Ermöglichen von aktiver politischer Partizipation durch die Lernenden zur Demokratieförderung stellt eine zentrale Komponente des Ansatzes dar. Sie sollen ermächtigt werden an demokratischen Entscheidungsfindungsprozessen teilzunehmen. Diese Art der Ermächtigung geht einher mit einem gestärkten demokratischen Bewusstsein und gibt den Lernenden die Möglichkeit Transformationen in Gang zu setzen und mitzugestalten. Insbesondere in Zeiten, deren Charakter vor allem als von Krisen geprägt wahrgenommen wird, ist es von essentieller Bedeutung, dass sich Bürger:innen für die Bewältigung globaler und regionaler Herausforderungen einsetzen können.
So offen diese genannten Eckpfeiler für Auslegungen sind, so vielfältig und pluralistisch sind auch die gesammelten Beiträge, die sich in diesem Band befinden. Die Ausgabe vereint Beiträge, die Schlaglichter auf aktuelle theoretisch-konzeptionelle Debatten rund um Transformation und politische Bildung werfen, mit Beiträgen zum erfahrungsorientieren und demokratiefördernden Lernen, sowie mit Beispielen von Akteur:innen und Organisationen, deren politische Praxis transformative Elemente aufweist. Die Beiträge beleuchten sehr unterschiedliche Bereiche, in denen jeweils Bildung stattfindet: Schulen, tertiärer Bildungsbereich, Erwachsenenbildung und Gemeinschaftsprojekte bzw. NGOs/Vereine. In all diesen Settings werden Lehr- und Lernerfahrungen ermöglicht.
Der Band ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil stellen fünf theoretisch-analytische Beiträge den Stand der Wissenschaft dar. Im zweiten Abschnitt stehen in weiteren fünf Beiträgen praktische Umsetzungen im Fokus und zuletzt werden zwei Organisationen und deren politische Arbeit vorgestellt, die in den Bereichen Transformation und politische Bildung tätig sind.
Ausgehend von den multiplen Krisenerfahrungen der heutigen Zeit als Konsequenz der imperialen Lebensweise stellen Stefanie Fridrik und Tobias Doppelbauer das Konzept der Transformation und im Speziellen jenes der sozial-ökologischen Transformation vor. Über eine Analyse aktuell geführter Debatten zu transformativer Bildung und deren politischer Komponenten gelangen sie zu dem Begriff der transformativen politischen Bildung, der im Zentrum ihres angehenden Forschungsprojekts steht. Am Ende des Beitrags wird das Kollektiv Radikale Töchter, das als Praxispartnerin in dem Forschungsprojekt fungiert, vorgestellt.
Lara Kierot behandelt die Rolle der Bildung im Kontext von Demokratisierungsprozessen, indem die Bedeutung von Subjektorientierung und transformativer Bildung hervorgehoben wird. Durch die kritische Reflexion von Macht- und Herrschaftsverhältnissen sollen Lernende zu politischer Mündigkeit und Handlungsfähigkeit befähigt werden.
Petra Kolb analysiert, wie Proteste und politische Utopien, die auf demokratischen Werten basieren, als präfigurative Bildung verstanden werden können. Auf einer theoretischen Ebene zeigt die Autorin, dass durch Proteste und Protestcamps Räume geschaffen werden, in denen utopische Vorstellungen verwirklicht und bestehende Hierarchien in Bildungsprozessen hinterfragt werden.
Josef Mühlbauer untersucht in seinem Beitrag das Spannungsverhältnis zwischen Normativität und politischer Bildung, die mit Transformationsprozessen in Zusammenhang steht. Auch die Rolle von subjektiven Voraussetzungen und Sinnwelten der Lernenden wird beleuchtet.
Der Beitrag von Jens Kastner behandelt die beiden Positionen des Soziologen Pierre Bourdieu und des Philosophen Jacques Rancière als zentrale Grundlagen zum Transformationspotenzial im Bildungsbereich. Hierbei werden Fragen der Wissensproduktion und der Kollektivierung von Bildungsmöglichkeiten bearbeitet.
Praxis
Samuel Kammermeier und Selma Schacht reflektieren in ihrem Beitrag die bisherigen Ereignisse im Arbeitskampf der Freizeitpädagog:innen rund um eine umstrittene Gesetzesnovelle. In ihrer aufschlussreichen Chronologie betrachten sie Momente politischer Bildung in dem gesamten Prozess. Diese beinhalten Bewusstwerdungsprozesse über politische Strukturen, Selbstermächtigung und daraus resultierende aktive politische Partizipation.
Der Beitrag von Alexander Hoffelner beschäftigt sich mit der Praxis der pädagogischen Improvisation und damit mit den unvorhergesehenen und kontingenten Aspekten von schulischem Unterricht. Er versucht dabei zu begründen, warum Unterricht nicht ohne Improvisieren möglich ist, vor allem auch, wenn es darum geht, Demokratie zu fördern bzw. politische Bildung umzusetzen. Professionelle pädagogische Improvisation ist, so die These des Autors, ein notwendiges Erfordernis für förderlichen Unterricht im Rahmen transformatorischer Bildungsprozesse.
Reinhard Stähling berichtet in seinem Beitrag „Schulintern den Umbau über Jahrzehnte organisieren“ darüber, wie in einer deutschen Brennpunktschule in Münster der solidarische Umbau von unten gelingen kann. Anhand von sieben Punkten stellt der Autor konkrete, praxisorientierte Maßnahmen wie den Klassenrat und dergleichen vor, die einerseits aussondernde Strukturen Zug um Zug außer Kraft setzen und andererseits die Stärken der Schüler:innen fördern.
Ronald Tuschl stellt in seinem Beitrag das Konzept „Global Citizenship Education“ vor und analysiert hierbei eine Studie zum gleichnamigen Hochschullehrgang an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt. Dieser Beitrag dient dazu das Potential transformativer Bildung in der Praxis zu bewerten.
Zum Ende dieser Ausgabe des schulheft werden zwei Vereine vorgestellt, deren alltägliche Praxis der politischen Bildung sowie Prozessen der Transformation gewidmet ist: Das Institute for a Global Sustainable Information Society (GSIS) und das Demokratiezentrum Wien (DZ).
Ein Schlaglicht auf vergangene Entwicklungen der politischen Bildung in Österreich wirft Heidrun Pirchner in ihrem online unter schulheft.at abrufbaren Artikel „Das ‚Mitterauer-Institut‘ puschte unser politisches Bewusstsein. Lehrer:innen-Fortbildung im Lehrgang Politische Bildung“. Der Artikel befasst sich mit einer außergewöhnlichen und ausgesprochen kritischen Veranstaltung der Lehrer:innen-Fortbildung, die auch als frühes Beispiel für inhaltliche und methodische Mitbestimmung der Betroffenen gelten kann. (https://schulheft.at/hefte/hefte-185-196/heft-195-03-2024. Hier findet man dann genau das PDF.)
Die Herausgeber:innen
Josef Mühlbauer, Marlies Adler, Lina Feurstein, Florian Jilek-Bergmaier
Literatur
Freire, Paulo (1975): Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Mezirow, Jack (1991): Transformative Dimensions of Adult Learning. San Francisco: Jossey-Bass Publisher.
Oelkers, Jürgen (2000): Demokratie und Bildung. Über die Zukunft eines Problems. In: Zeitschrift für Pädagogik 46 (3), 333-347.
Autor:innen dieser Ausgabe
Herausgeber:innen
Josef Mühlbauer
Marlies Adler
Lina Feurstein
Florian Jilek-Bergmaier
Marlies Adler, Lehrerin an einer Mittelschule in Wien und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Didaktik der Politischen Bildung, Universität Wien.
Tobias Doppelbauer, Universitätsassistent an der Didaktik der Politischen Bildung, Universität Wien. Mitglied der IG Solawi Leben – Interessensgemeinschaft der Solidarischen Landwirtschaften Österreichs. tobias.doppelbauer@univie.ac.at.
Lina Feurstein, Referentin für Sozialpolitik der Bundesvertretung der Österreichischen Hochschüler_innenschaft, studiert Rechtswissenschaften und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Universität Wien.
Stefanie Fridrik, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Trainerin und Projektmanagerin am Demokratiezentrum Wien. Forschungsinteressen: kritische politische Bildung, künstlerisch-aktivistische Praktiken, radikaldemokratische Theorien. fridrik@demokratiezentrum.org.
Alexander Hoffelner, Bildungswissenschafter, Universitätslektor am Institut für Bildungswissenschaft und Zentrum für Lehrer:innenbildung der Universität Wien sowie der Akademie der bildenden Künste, BHS-Lehrer für gesellschaftliche und künstlerische Fächer, Referent in der Lehrer:innenfortbildung, freischaffender Schauspieler und Theaterpädagoge. alexander.hoffelner@univie.ac.at.
Wolfgang Hofkirchner, Außerordentlicher Universitätsprofessor im Ruhestand, Direktor des Institute for a Global Sustainable Information Society (GSIS), Wien. wolfgang.hofkirchner@gsis.at.
Florian Jilek-Bergmaier, Lehrer an einer Mittelschule in Wien. Unabhängiger Personalvertreter und Gewerkschafter in der Region West 3 (Wien-Meidling). Seit 2014 beim schulheft engagiert. kontakt@schulheft.at.
Samuel Kammermeier, Freizeitpädagoge, Betriebsrat und Aktionskomiteemitglied in der Bildung im Mittelpunkt GmbH (BiM). samuel.kammermeier@servus.at.
Jens Kastner, Soziologe und Kunsthistoriker, Senior Lecturer am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien. j.kastner@akbild.ac.at.
Lara Kierot ist Postdoc Universitätsassistentin in der Didaktik der Politischen Bildung an der Universität Wien. Aktuell forscht und lehrt sie zu subjekt- und anwendungsorientierter Weiterentwicklung von Lehr- und Lernprozessen, Selbstreflexivität und Transformativer Bildung sowie diversitätsorientierter und diskriminierungs-
bzw. rassismuskritischer Bildung.
Petra Kolb, Politikwissenschaftlerin, Prae-Doc an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Protest- und Bewegungsforschung, Politische Theorie (insb. Demokratietheorien) und Demokratiebildung.
Josef Mühlbauer, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei „Empowerment for Peace“ (EfP), gab 2022 das Buch „Zur imperialen Lebensweise“ und 2024 das Buch „Kritische Friedensforschung“ heraus. Interviews & Lesungen auf YouTube: Varna Peace Institute (VIPR). josef.muehlbauer@empowermentforpeace.org.
Selma Schacht, Freizeitpädagogin, Sozialarbeiterin, Betriebsratsvorsitzende in der Bildung im Mittelpunkt GmbH (BiM), KOMintern-Arbeiterkammerrätin und Gewerkschaftsaktivistin. selma.schacht@bildung-wien.at.
Reinhard Stähling, bis 2022 Schulleiter der PRIMUS-Schule Berg Fidel – Geist in Münster, einer Gesamtschule der Jahrgänge 1-10, Autor pädagogischer Bücher. www.reinhard-staehling.de. ggs-bergfidel@gmx.de.
Ronald H. Tuschl, ist seit 2015 mit Lehre und Forschung am Institut für Bildungsforschung und PädagogInnenbildung (IBP) an der Karl-Franzens-Universität Graz betraut und lehrt in den Bereichen Transformative Bildung, Menschenrechtsbildung, Demokratieerziehung und Globales Lernen.
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Studienverlag: Schulheft 195