Imperiale Lebensweise und Bildung
Klappentext
Von der imperialen zur solidarischen Lebensweise! So bestechend einfach könnte ein Programm zur Lösung aller Probleme aussehen. Dass es nicht ganz so simpel ist, haben Ulrich Brand und Markus Wissen mit dem vieldiskutierten Konzept „Imperiale Lebensweise" dargelegt. Das vorliegende schulheft zeichnet die Auseinandersetzungen um dieses Konzept nach, stellt exemplarisch einige Beispiele vor und liefert Beiträge aus dem Bildungsbereich.
Inhalt
Editorial
I. Diskussion des Konzepts
Leo Xavier Gabriel
Was ist die Imperiale Lebensweise?
Eine konzeptuelle Darstellung
Ulrich Brand und Markus Wissen
Die Linke und die Imperiale Lebensweise
Stefanie Hürtgen
Das nördliche »Wir« gibt es nicht
Ulrich Brand, Markus Wissen
Zum Gebrauchswert des Begriffs
Christa Wichterich
Covid-19, Care und Kipppunkte imperialer Lebensweise
II. Aspekte der imperialen Lebensweise
Jutta Matysek
Lobau-Autobahn & Co: Das drohende Autobahngeschwür und seine Metastasen
Gerlind Weber
Verschandelt! Verschleudert! Verbaut! – Schluss mit dem Bodenfraß!
Marcus Fischer
Das ganze Grünland ein Scheißhaus
Katharina Ritter
Lerne den Kapitalismus fürchten: Das Monopoly
Josef Baum
… ohne es zu merken
Die unterschätzte Bedeutung der Werbung ab den Kindesjahren
Lorenz Glatz
Gutes Essen für alle – aber wie?
III. Imperiale Lebensweise und Bildung
Julia Koll
„Ich bin halt so in diesen Klimawandel reingeboren“
Jugendarbeit in der Klimakrise
Lilly Panholzer
Von Sturmmasken und anderen Verpflichtungen
Malte Kleinschmidt
Dekolonialität und Kritik der imperialen Lebensweise
Überlegungen zur politischen Bildung
Josef Mühlbauer
Herrschaftskritische Pädagogik und Schulkritik
Eine (queer-)anarchistische Antwort auf die imperiale Lebensweise
Vera Besse
KAUZ – Werkstatt für Klima, Arbeit und Zukunft
Michael Sertl
Was ist im Schulunterricht brauchbar?
Kurzrezensionen
Autor*innen dieser Ausgabe
Editorial
Mit dieser Nummer setzen wir die Auseinandersetzung fort, die wir mit der Klima-Nummer „Unser Haus brennt!“ (SH 178) begonnen haben und die uns wohl noch länger beschäftigen wird. Ausgangspunkt ist diesmal das von Ulrich Brand und Markus Wissen entwickelte Konzept der Imperialen Lebensweise (IL)1, das bei Erscheinen des Buches 2017 offensichtlich einen Nerv getroffen hat. Besonders innerhalb der Linken hat damit eine recht lebendige Diskussion begonnen, die wir hier – im Rahmen unserer Möglichkeiten – dokumentieren wollen. Als schulheft sehen wir uns natürlich verpflichtet, die Möglichkeiten und Anregungen, die das Konzept IL anbietet, für den schulischen Unterricht und die Politische Bildung zu prüfen.
Das Reizvolle an diesem Konzept ist, dass es sozusagen zwei Seiten hat: das kritische Analyseinstrument Imperiale Lebensweise auf der einen Seite und das politisch-aktivierende Gegenkonzept der solidarischen Lebensweise auf der anderen Seite. Oder mit anderen Worten: Auf der einen Seite kritisiert IL das „Leben auf Kosten anderer bzw. der Natur“, auf der anderen Seite geht es um das „gute Leben für alle“. Dabei haben wir versucht, dieses Doppelgesicht auch in einer größeren Bandbreite an Textsorten zu repräsentieren als „bloß“ in wissenschaftlichen Texten. Besonders erfolgreich waren wir da nicht, aber zweifellos liefern die Texte von Aktivist:innen wie Jutta Matysek, Lorenz Glatz und Lilly Panholzer eine andere als die rein wissenschaftliche Perspektive. Richtig literarisch wird der Ton dann bei Marcus Fischer, dessen Text wir auch etwas anders layoutiert haben.
Das Heft ist in drei Teile gegliedert: 1. Diskussion des Konzepts, 2. Aspekte der imperialen Lebensweise und 3. Imperiale Lebensweise und Bildung.
Der erste Teil zur Diskussion des Konzepts Imperiale Lebensweise besteht aus fünf theoretisch-analytischen Beiträgen.
Der Beitrag von Leo Xavier Gabriel „Was ist die Imperiale Lebensweise?“ stellt eine einleitende Begriffserklärung dar. Hierbei werden Hauptelemente und die dahinterstehende Anwendungslogik der Imperialen Lebensweise erklärt. Eine Grafik, die inzwischen in vielen Varianten kursiert, veranschaulicht diese Zusammenhänge.
Das Konzept der IL ist nicht widerspruchsfrei und wurde aus verschiedenen Perspektiven diskutiert. Eine prägnante Zusammenfassung dieser Diskussionen und der daraus sich ergebenden Weiterentwicklungen liefert das Vorwort der englischsprachigen Fassung des Buches „The Imperial Mode of Living“ (2021), das wir übersetzt haben und hier mit dem Titel „Die Linke und die Imperiale Lebensweise“ abdrucken. Brand und Wissen erörtern überblicksartig die diversen Kritiken zum Konzept IL (z. B. unklarer Klassenstandpunkt, feministische Kritik, …).
In ihrem Beitrag „Das nördliche ‚Wir‘ gibt es nicht“ geht Stefanie Hürtgen auf die wiederholt vorgetragene Kritik eines unklaren Klassenstandpunkts ein und argumentiert, dass die Vorstellung eines einheitlichen globalen Nordens falsch ist. Vielmehr sollte die Analyse von einer fragmentierten Gesellschaft ausgehen, in der die Subjekte durchaus die IL in Frage stellen.
Warum Ulrich Brand und Markus Wissen die Begrifflichkeit gerade so gewählt haben, wie sie es getan haben, stellen sie in dem kurzen Ausschnitt aus dem Original-Buch (2017) „Zum Gebrauchswert des Begriffs“ dar.
Schließlich ergänzt Christa Wichterich das Konzept der IL mit einer feministischen Kritik und zeigt die Verbindungen von sozialer Reproduktion sowie Sorgearbeit mit der imperialen Lebensweise. Mit dem Beitrag „Covid-19, Care und Kipppunkte imperialer Lebensweise“ zeigt Wichterich, wie die imperiale Lebensweise durch die Ausbeutung der Sorgearbeit stabilisiert wird und wie die Pandemie die Dilemmata erneut aufgezeigt bzw. verschärft hat.
Im zweiten Teil Aspekte der imperialen Lebensweise illustrieren wir das Konzept anhand ausgewählter Analysen zum Thema Bodenfraß,
Werbung und solidarische Landwirtschaft. Den Beginn macht Jutta Matysek mit ihrem Hintergrundbericht zum Kampf gegen die Lobau-Autobahn. Möglicherweise ist dieser Kampf zum Zeitpunkt der Drucklegung nicht mehr in den Schlagzeilen, aktuell ist er ganz sicher noch. Und er liefert ein Beispiel, wie Bodenversiegelung und ein ziemlich ungebrochener Glaube an die Notwendigkeit einer „autogerechten Stadt“ die imperiale Lebensweise einzementieren. Der Aufsatz von Gerlind Weber „Verschandelt! Verschleudert! Verbaut! – Schluss mit dem Bodenfraß!“ stammt, ebenso wie die kurze Glosse von Katharina Ritter über das Brettspiel Monopoly, aus dem Katalog der Ausstellung des Architekturzentrums Wien „Boden für Alle“. Diese wirklich aufrüttelnde Ausstellung, die den leichtfertigen Umgang mit der Ressource Boden in all ihren – österreichischen! – Facetten dokumentiert (Stichwort: Grünland zu Bauland umwandeln? Kein Problem!), macht übrigens gerade ihre Tour durch die Bundesländer (vgl. www.azw.at/de/termin/boden-fuer-alle-23/).
Liefert der Text der Raumplanerin Gerlind Weber eine systematische Abrechnung mit dem Bodenfraß und formuliert notwendige Forderungen, so überträgt der Text von Marcus Fischer diese Anklage ins Literarische. Seine Suada „Das ganze Grünland ein Scheißhaus“ bringt geradezu Werner Schwab’sche Wucht in unser schulheft. Katharina Ritters kurze Glosse „Lerne den Kapitalismus lieben“ schildert, wie ein ursprünglich antikapitalistisch gedachtes Spiel schlussendlich „umgedreht“ wurde und als „Monopoly“ um die Welt ging. Da wird klar, was mit der hegemonialen Macht der imperialen Lebensweise gemeint ist. Diesen Mechanismen der kapitalistischen Subjektivierung widmet sich Josef Baum in seinem Essay „...ohne es zu merken. Die unterschätzte Bedeutung der Werbung ab den Kinderjahren“. In seinem Aufsatz „Gutes Essen für alle – aber wie?“ zeichnet Lorenz Glatz den Weg in die Sackgasse der industriellen Landwirtschaft nach und gibt einen Überblick über die österreichischen und internationalen Alternativen und Ansätze einer solidarischen Landwirtschaft.
Im dritten Teil Imperiale Lebensweise und Bildung liefern wir insgesamt vier Beiträge.
Julia Koll gewährt uns in ihrer Studie „Ich bin halt so in diesen Klimawandel reingeboren“ Einblicke, wie Jugendliche unterschiedlicher sozialer Herkunft die Themen Klimakrise, zivilgesellschaftliches Engagement, Mobilität und Ernährung diskutieren, und welche Stellung Schule und Jugendarbeit im Prozess der Bewusstmachung und der Aktivierung einnimmt.
Lilly Panholzer schildert in ihrem Bericht „Von Sturmmasken und anderen Verpflichtungen“ wie aus einem Ausstellungsbesuch mit einer Kunstvermittlerin ein politisches Umweltprojekt der Klasse wurde, und was sie als Lehrerin an den Diskussionen und Widerständen von Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern lernen konnte. Ein Weckruf an alle Lehrer*innen, den Auftrag zur politischen Bildung in Sachen Klimakrise ernst zu nehmen!
Malte Kleinschmidt zeigt in seinem Essay „Dekolonialität und Kritik der Imperialen Lebensweise“ die Problematik der Externalisierung und die Kolonialität der eigenen Lebensverhältnisse auf. Mit dem Begriff des „weiß-weißen Selbstgesprächs“ kritisiert er das Konzept der Imperialen Lebensweise und die Schieflage in der Diskussion der Ungleichheitsstrukturen zwischen denen, die davon betroffen sind, und jenen, die diese diskutieren.
Josef Mühlbauer beschäftigt sich mit „Herrschaftskritische(r) Pädagogik und Schulkritik“. Er greift die systemerhaltende Rolle der Schule auf und untersucht, welchen Beitrag sie zum Erlernen der imperialen Lebensweise leistet. Mit seiner Schulkritik stellt Mühlbauer Macht- und Herrschaftsverhältnisse radikal in Frage und macht sich auf die Suche nach Ansätzen für eine herrschaftskritische, (queer-)anarchistische Pädagogik, als Gegenbewegung zur imperialen Lebensweise.
Die Vorstellung des Projekts KAUZ – Werkstatt für Klima, Arbeit und Zukunft und Kurzrezensionen von Publikationen, die sich für den Unterrichtsbetrieb in Schule und Hochschule eignen, schließen die Nummer ab.
Viel Vergnügen beim Lesen!
Barbara Falkinger, Leo Xavier Gabriel, Michael Sertl
1 Wir verwenden in dieser schulheft Nummer die Großschreibung, also Imperiale Lebensweise (IL), immer dann, wenn inhaltlich auf das Konzept von Brand/Wissen bzw. auf das kritische Analysekonzept Bezug genommen wird. Bei deskriptiven Beschreibungen einer imperialen Lebensweise bleibt das Adjektiv klein geschrieben.
Autor*innen dieser Ausgabe
Redaktion
Barbara Falkinger
Leo Xavier Gabriel
Michael Sertl
Josef Baum, Ökonom und Geograf, Uni Wien. Schwerpunkte: Klima, Ökologie, Verteilung, Ökologische Ökonomie, China. Stadtrat in Purkersdorf, Obmann Verkehrs- und Regionalforum Waldviertel.
Vera Besse, Biologin, Erwachsenenbildnerin, Projektmanagerin und Vorausdenkerin; ist in ihrer Lohnarbeit bei akaryon tätig und sorgt für mehr Nachhaltigkeit in Unternehmen. Bei KAUZ – Werkstatt für Klima, Arbeit und Zukunft – erstellt sie im Team Bildungsmaterialien für die sozialökologische Transformation.
Ulrich Brand, Politikwissenschaftler, arbeitet an der Universität Wien und ist unter anderem Mitbegründer und Vorstandsmitglied von „Diskurs. Das Wissenschaftsnetz“, Arbeitsschwerpunkte: imperiale Lebensweise, internationale Umweltpoliitk, Lateinamerika und sozial-ökologische Transformation.
Barbara Falkinger, Schulleiterin einer Mittelschule in Wien, Mediatorin, Lehrerin für Englisch und Geografie und Wirtschaftskunde aus dem Blickwinkel des Globalen Lernens. Mitherausgeberin der Schulhefte.
Marcus Fischer, Schriftsteller, Werbetexter. Gewinner beim fm4 Kurzgeschichten-Wettbewerb „Wortlaut“. Zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, im Herbst 2022 erscheint sein erster Roman „Die Rotte“.
Leo Xavier Gabriel, Politikwissenschaftler und politischer Aktivist. Mitherausgeber des Sammelbands „Zur imperialen Lebensweise“ (Mandelbaum Verlag, 2022).
Lorenz Glatz, pensionierter Lehrer für Latein und Griechisch, Redakteur bei „Streifzüge. Magazinierte Transformationslust“, aktiv bei www.solawi.life, Mitglied bei den Solawi „gela Ochsenherz“ und „Ouvertura“, Autor von „Reisen zu verlorenen Nachbarn. Die Juden von Wiesmath“, Löcker 2017.
Stefanie Hürtgen, Wirtschaftsgeographin und Soziologin, associate professor an der Universität Salzburg und permanent fellow am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Sie war lange Zeit in der politischen Erwachsenenbildung tätig und ist gewähltes Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Rosa Luxemburg Stiftung und im wissenschaftlichen Beirat des Mattersburger Kreises für Entwicklungspolitik der Österreichischen Hochschulen.
Malte Kleinschmidt, lehrt und forscht im Institut für Didaktik der Demokratie und dem Center for Inclusive Citizenship an der Leibniz Universität Hannover. Seine Dissertation zum Thema „Dekoloniale politische Bildung. Eine empirische Untersuchung von Lernendenvorstellungen zum postkolonialen Erbe“ steht als OpenAccess zur Verfügung. Seine Themenschwerpunkte innerhalb der Fachdisziplin der politischen Bildung sind Dekolonialität, Rassismuskritik, Globalisierung und Citizenship Studies.
Julia Koll, studierte Sozialraumorientierte Soziale Arbeit, Internationale Entwicklung und Germanistik in Wien. Beruflich beschäftigt sie sich mit den Themen Migration, Zusammenleben, Bildung und Nachhaltigkeit. Sie ist Mitgründerin der Initiative KAUZ – Werkstatt für Klima, Arbeit und Zukunft – und des KauzPod, dem Podcast zu Klima, Arbeit und Zukunft.
Jutta Matysek, Sprecherin der BürgerInitiative „Rettet die Lobau – Natur statt Beton“, ein überparteilicher Verein, der sich seit 2003 gegen die geplanten Autobahnen im Nordosten von Wien und für umweltfreundliche Mobilität und den Schutz der Lobau einsetzt.
Josef Mühlbauer, Politikwissenschaftler, Mitarbeiter des Varna Institute for Peace Research (VIPR); Arbeitsschwerpunkte: Queeranarchismus, Staatstheorien und Degrowth. Mitherausgeber des Sammelbandes „Zur imperialen Lebensweise“ (Mandelbaum Verlag, 2022).
Lilly Panholzer, Lehrerin für BE und Werken an einem Wiener Gymnasium, aktiv bei den Teachers for Future, findet, dass in der Schule und anderswo Kollapsbewusstsein und die Revolution für das Leben (noch) viel zu klein ist und fordert hiermit auf, dies zu ändern. Mentale Unterstützerin von #Lobaubleibt.
Katharina Ritter, Juristin, Kuratorin und Autorin für Architektur. Seit 1994 ist sie als Kuratorin und seit 2006 als Programmkoordinatorin für das Architekturzentrum Wien tätig.
Michael Sertl, ehemaliger Hauptschullehrer, Soziologe; Humanwissenschafter an der PH Wien (i.R.); Arbeitsschwerpunkte: Schule und soziale Ungleichheit; Soziologie der Schule und des Unterrichts. Mitherausgeber der Schulhefte.
Gerlind Weber, Studium der Soziologie, Rechtswissenschaften, Raumplanung. 1991–2012 Universitätsprofessorin für Raumforschung und Raumplanung an der Univ. für Bodenkultur. Lehrtätigkeit an zahlreichen Universitäten und Gastprofessur an ETH Zürich und Kyoto University. Heute freischaffende Raumwissenschafterin. Sie beschäftigt sich mit der nachhaltigen Entwicklung ländlicher Räume, schrumpfenden Regionen, Frauen am Land, Bodenpolitik, Ortskernrevitalisierung und den Raumwirkungen des demographischen Wandels.
Christa Wichterich, feministische Soziologin mit den Schwerpunkten Gender und Entwicklung, hat als Gastprofessorin für Geschlechterpolitik in Kassel, Wien und Basel unterrichtet. Arbeitet gleichzeitig als freiberufliche Publizistin und Buchautorin. Arbeitsschwerpunkte: feministische Ökonomie und Ökologie, Care Arbeit, internationale feministische Bewegungen.
Markus Wissen, Politikwissenschaftler, lehrt und forscht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung, Arbeitsschwerpunkte: imperiale Lebensweise, Arbeit und Ökologie, sozial-ökologische Transformation.
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