Wer braucht schon Utopien?
Klappentext
Utopien können Ziele und Wege emanzipatorischer Visionen aufzeigen, das Soziale neu entwerfen und kritische (politische) Bildung inspirieren. Sie sind aber nicht unschuldig, sondern in Macht- und Herrschaftsverhältnisse verstrickt.
Die titelgebende Frage „Wer braucht schon Utopien?“ drängt sich also auf.
Dieses schulheft versammelt vielstimmige Antworten in Form von theoretischen und historischen Analysen, empirischen Studien sowie essayistischen und künstlerischen Auseinandersetzungen.
Inhalt
Editorial
Wer braucht schon Utopien?
Sarah Göhmann
Utopiebildung weiterdenken
Potenziale und Fallstricke für die politische Bildung
Antje Winkler
Nirgends: In Bewegung bleiben oder
„… wie man mit beiden Beinen auf der Erde träumt“
Stefan Palaver
Projektionen von Schulen in (un-)möglichen Zukünften
Petra Kolb
Stadtproteste. Eine politische Utopie?
Stefan Vater
Eine andere Welt
Über die Un-Möglichkeit von Utopien und deren Notwendigkeit im Neoliberalismus
Malte Ebner von Eschenbach
Volksbildungsheterotopie Lesesaal
Betrachtungen zu den Bücherhallen als progressiver Ort medialer Wissensvermittlung und politischer Kontrolle in der Volksbildung um 1900
Sophia Schorr
Cruising Pedagogy
Zur Neufassung des Strukturzusammenhangs von Pädagogik und Utopie
Lena Marie Staab
„Enby Babes Blog. Alles außer Binarität!“
Nicht-binärgeschlechtliche Räume als Utopie(entwürfe) und ihre Bedeutung für Subjektivierungen
Iris Mendel
Erschöpft
Eine Pädagogik der Sorge und Hoffnung
Lukas Hofmann
Wer darf schon Utopien?
Herrschaftskritische Annäherungen
Maida Schuller
Neue Beziehungsweisen knüpfen
Abolitionistische Utopie und ihre Bedeutung für eine transformative Politische Bildung
Thomas Fritz
Utopien sind anderswo, nicht nirgendwo
Lukas Barth & Selina Obinger
Utopie? Nie!
Bildende Potenziale von Utopien in der Apokalypse?
Autor:innen dieser Ausgabe
Editorial
Wer braucht schon Utopien?
Wer alternative Zukünfte will, kommt um die Auseinandersetzung mit multiplen Krisen der Gegenwart nicht herum, seien es Pandemien, die Klimakrise, das Verhältnis von Menschen zu ihrer Umwelt im sogenannten ‚Anthropozän‘, Kriege überall auf der Welt, die steigende Zahl an zur Flucht gezwungenen Menschen, die durch das kapitalistische Wirtschaftssystem hervorgerufenen Verwerfungen, das Wiedererstarken von antifeministischen und antidemokratischen Bewegungen etc. Wohin aber kann und soll die Reise im Angesicht dieser geradezu dystopischen Entwicklungen gehen, wenn klar ist, dass individualistische und nationalistische Lösungen deutlich zu kurz greifen? In Utopien können tiefgreifende sozial-ökologische Transformationen ihren Ausdruck finden und dabei Alternativen zum Gegenwärtigen aufzeigen.
Utopien – so, wie wir sie verstehen – können verschiedene Ziele und Wege kritisch-emanzipatorischer Ideen und Visionen aufzeigen, die gesellschaftlich erzeugtes Leid ablehnen und/oder neue Versionen eines Zusammenlebens entwerfen (vgl. u. a. Negt 2012, Haraway 2016). Sie fungieren als Medium der Phantasie für unwahrscheinliche, aber wünschenswerte Entwicklungsrichtungen (vgl. u. a. Bloch 1959). Das spekulative und imaginative Moment utopischen Denkens könnte Bestandteil einer kritischen Pädagogik sein, die darum bemüht ist, an situierten, relationalen Geschichten der Verantwortung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu arbeiten, und damit Alternativen zu den gegenwärtigen Verhältnissen denk- und lebbar zu machen (vgl. u. a. Tsing et al. 2017, Bremer/Kuhnhenne 2017, Vanackere/Reimann 2018, Castro Varela/Klug 2020, Friedrichs 2022).
Und doch sind Utopien keine unschuldigen Zukunftsvisionen, die jenseits der kritisierten Gegenwart stehen. Für dieses schulheft haben wir daher die Fragen aufgeworfen, wann, für wen und für welche Zwecke Utopien gebraucht werden, welche Interessen, Anliegen und Macht- und Herrschaftsverhältnisse damit verbunden sind und in welche Möglichkeitsregime sie eingebettet sind. Wir fragen außerdem, welche Verständnisse von Utopie sich ausmachen lassen, welche Bezüge zu kritisch-emanzipatorischer (politischer) Bildung sich daraus ergeben und welche konkreten Wirkungen und Funktionen Utopien im Bildungsbereich haben können. Und schließlich: Was können Überlegungen zur Utopie für eine macht- und herrschaftskritische Bildungspraxis, -theorie und -forschung bedeuten?
Die Beiträge für dieses Heft wurden von Wissenschaftler:innen in unterschiedlichen Berufsphasen sowie von Bildungspraktiker:innen verfasst. Sie spiegeln die Breite der Themen und Zugänge in der Beschäftigung mit der Schnittstelle Utopie und Bildung wider. Das Spektrum reicht von theoretischen und historischen Analysen über empirische Studien bis hin zu essayistischen Zugängen und künstlerischen Auseinandersetzungen. Im Versuch, dieser Vielstimmigkeit gerecht zu werden, haben wir die Beiträge so gereiht, dass sich, unserem Empfinden nach, von Beitrag zu Beitrag und an den Übergängen eine Erzählung entfaltet – sei dies durch das Verweben thematischer Ähnlichkeiten und inhaltlicher Anknüpfungspunkte zwischen den Beiträgen, oder aber gerade durch das Setzen von Kontrapunkten, durch Abgrenzungen und Perspektivenverschiebungen. Unsere Zusammenstellung soll einladen, sich auch auf neue Gedankenstränge einzulassen, dem eigenen Sound der Beiträge zu folgen und den Rhythmus der Abfolge zu spüren.
Den Anfang macht der Text Utopiebildung weiterdenken – Potenziale und Fallstricke für die politische Bildung von Sarah Göhmann. Auf einer fundierten Begriffsbestimmung aufbauend diskutiert Göhmann anhand einer Konkretisierung von Utopiefähigkeit, wie eine praktische politische Bildungsarbeit vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftspolitischer Herausforderungen aussehen kann. Didaktische Aspekte bilden die Verbindung zum essayistisch angelegten Text von Antje Winkler mit dem Titel Nirgends: In Bewegung bleiben oder „… wie man mit beiden Beinen auf der Erde träumt“. Autoethnographisch einsetzend verwebt Winkler vielfältige sozialwissenschaftliche, philosophische und literarische Bezüge mit kunstpädagogischen und weiteren bildungswissenschaftlichen Überlegungen zum Entstehen utopischen Denkens. Stefan Palaver verhandelt in seinem Beitrag Projektionen von Schulen in (un-)möglichen Zukünften die pädagogische Praxis mit künstlerischen Erkenntnismitteln. In drei Comics widmet er sich aus bildungsphilosophischer Perspektive (un-)möglichen Utopien von Schule, wobei er soziale Selektion und Distinktion sowie die gesellschaftlich vermittelte Wahrnehmung von Geschichte thematisiert. Von diesen in einer ferneren Zukunft platzierten Überlegungen kehren wir mit dem Beitrag von Petra Kolb zu konkreten Utopien zurück, die bereits jetzt in Ansätzen gelebt werden. In ihrem Beitrag Stadtproteste. Eine politische Utopie? beschreibt Kolb anhand der Hamburger Recht-auf-Stadt-Bewegung, inwiefern Protestbewegungen mittels präfigurativer Praxen alternative utopische Lebensformen zu verwirklichen suchen. Zeitlich wieder anders gelagert taucht Stefan Vater in seinem Text Eine andere Welt. Über die Un-Möglichkeit von Utopien und deren Notwendigkeit im Neoliberalismus in historisch-literarische Utopieentwürfe ein. Anhand dieser Entwürfe beleuchtet er die Verwerfungen des Neoliberalismus und des Patriarchats, um sich mithilfe der feministischen Science Fiction der Problematik des Denkens von Undenkbarem fragend anzunähern. Mit seinem Beitrag zur Volksbildungsheterotopie Lesesaal wirft Malte Ebner von Eschenbach ebenfalls einen Blick in die Vergangenheit. Anhand detailreicher Beschreibungen rekonstruiert er aus historischer Perspektive das bürgerlich-liberale Vorhaben, Volksbildung zu regulieren, als konkrete Heterotopie, da sie eine Erhöhung kultureller Teilhabechancen für alle Bevölkerungsgruppen mit sich brachte.
Zur Mitte des Heftes lädt Sophia Schorr die Leser:innen dazu ein, Bildung und Utopie in theoretischen Suchbewegungen zusammenzudenken. Ausgehend von José Estaban Muñoz’ Konzept „Cruising Utopia“ – dem Entwurf einer queeren Utopie – plädiert Schorr für eine Cruising Pedagogy – Zur Neufassung des Strukturzusammenhangs von Pädagogik und Utopie. Auch im nächsten Beitrag werden Geschlechterfragen explizit aufgeworfen, diesmal anhand eines konkreten empirischen Beispiels. Lena Marie Staab analysiert in ihrem Beitrag „Enby Babes Blog. Alles außer Binarität!“ – Nicht-binärgeschlechtliche Räume als Utopie(entwürfe) und ihre Bedeutung für Subjektivierungen einen digitalen Raum als konkrete nicht-binäre Utopie. Über Utopien zu lesen ist zwar meist erquicklich, bei gleichzeitiger Verantwortung für Care- bzw. Sorgearbeit kann aber selbst diese Tätigkeit erschöpfen – ganz besonders, wenn Care-Arbeit nur individuell verhandelt wird und strukturelle Ungleichheiten ausgeblendet bleiben. In ihrem autoethnographischen Essay Erschöpft. Eine Pädagogik der Sorge und Hoffnung reflektiert Iris Mendel die Verwobenheiten sozialer Erschöpfung mit Bildung als Ort der Hoffnung, um dann in einem Ausblick auf eine feministische Bildungsrevolution zu münden. Auch Lukas Hofmann analysiert Ungleichheitsbedingungen. In seinem Beitrag Wer darf schon Utopien? Herrschaftskritische Annäherungen diskutiert er zentrale Positionen Pierre Bourdieus mit Blick darauf, dass gerade alltäglichen Artikulationen des Politischen utopisches Potential innewohnen. Maida Schuller stellt ebenso die Frage nach den Sprecher:innenpositionen und wendet sich dabei Schwarzen Widerstandsbewegungen zu. Ihr Text Neue Beziehungsweisen knüpfen – Abolitionistische Utopie und ihre Bedeutung für eine transformative Politische Bildung beleuchtet abolitionistische Praktiken als gegenwärtige Utopie und abolitionistische Impulse als Möglichkeit, im Rahmen politischer Bildung gegenhegemoniale Positionen zu stärken. Während dabei utopische Praxen im aktuellen deutschsprachigen Raum verortet werden, konstatiert hingegen Thomas Fritz: Utopien sind anderswo, nicht nirgendwo. In seinem Beitrag kritisiert er die hegemonialen und monolingualen Wissensproduktionen westlicher Gesellschaften aus sprachwissenschaftlicher Perspektive, indem er real existierende (mehr-)sprachliche Realitäten und Praxen des globalen Südens thematisiert. Den Abschluss bildet der Beitrag von Lukas Barth und Selina Obinger, in dem der ambivalente Charakter von Utopien zum Vorschein kommt. In ihrem Text Utopie? Nie! Bildende Potenziale von Utopien in der Apokalypse? beschreiben Barth und Obinger die aktuellen Verhältnisse als apokalyptisch und diskutieren auf dieser Grundlage den Doppelcharakter von Utopien in der (politischen) Bildung: als Notwendigkeit und gleichzeitig als Gefahr im Sinne einer potenziellen Stabilisierung der imperialen Lebensweise.
Die Reisen durch Vergangenheiten und Zukünfte, durch persönliche Reflexionen und theoretische Erkundungen, durch ferne Visionen und bereits vorhandene konkrete utopische Versuche führen uns zu vielfältigen herrschaftskritischen Einsichten und vielleicht auch zur einen oder anderen persönlich gefundenen Antwort auf unsere Ausgangsfrage: „Wer braucht schon Utopien?“
Die Herausgeber:innen
Daniela Holzer, Brigitte Kukovetz, Simone Müller, Jan Niggemann
Literatur
Bloch, Ernst (1959): Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bremer, Helmut; Kuhnhenne, Michaela (2017): Utopien als alternative Zukunftsentwürfe im Kontext von politischer Bildung, Arbeiten und Lernen. In: Dies. (Hg.): Utopien und Bildung, Study 356, Hans-Böckler-Stiftung, 7-10.
Castro Varela, María do Mar; Klug, Teo (2020): Utopien postkolonial – postkoloniale Utopien. In: malmoe 93. Online unter https://www.malmoe.org/2020/10/02/utopien-postkolonial-postkoloniale-utopien/ (24.06.2024).
Friedrichs, Werner (Hg.) (2022): Atopien im Politischen. Politische Bildung nach dem Ende der Zukunft. Bielefeld: transcript.
Haraway, Donna (2016): Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham: Duke University Press.
Negt, Oskar (2012): Nur noch Utopien sind realistisch. Politische Interventionen. Göttingen: Steidl.
Tsing, Anna Lowenhaupt; Swanson, Heather Anne; Gan, Elaine; Bubandt, Nils (Hg.) (2017): Arts of Living on a Damaged Planet. Ghosts and Monsters of the Anthropocene. Harrogate: Combined Academic Publishers.
Vanackere, Annemie; Reimann, Sarah (2018): Utopie und Feminismus. Berlin: Matthes und Seitz.
Autor:innen dieser Ausgabe
Herausgeber:innen
Daniela Holzer
Brigitte Kukovetz
Simone Müller
Jan Niggemann
Lukas Barth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten.
Malte Ebner von Eschenbach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Erwachsenenbildung/berufliche Weiterbildung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Thomas Fritz ist Lektor am Institut für Deutsch als Zweitsprache der Universität Wien mit dem Arbeitsschwerpunkt Mehrsprachigkeit.
Sarah Göhmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich 8: Sozialwissenschaften der Universität Bremen und dort Teil der Arbeitsgruppe Politikdidaktik.
Lukas Hofmann arbeitet als Universitätsassistent am Grazer Institut für Bildungsforschung und PädagogInnenbildung im Arbeitsbereich Bildungstheorie und Schulforschung.
Daniela Holzer, Assoziierte Professorin am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz, Arbeitsbereich Erwachsenen- und Weiterbildung
Petra Kolb studiert Politikwissenschaft und ist als Prae-Doc im Bereich Didaktik der Politischen Bildung an der Universität Wien angestellt.
Brigitte Kukovetz ist Universitätsassistentin am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz, Arbeitsbereich Migration – Diversität – Bildung.
Iris Mendel ist Universitätsassistentin am Institut für Bildungsforschung und PädagogInnenbildung der Universität Graz.
Simone Müller arbeitet und dissertiert am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz, Arbeitsbereich Erwachsenen- und Weiterbildung.
Jan Niggemann, Erziehungswissenschaftler und Erwachsenenbildner, arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Österreichischen Institut für Erwachsenenbildung, an der Uni Wien und der ZhdK Zürich.
Selina Obinger ist Studentin an der Pädagogischen Hochschule Weingarten & wissenschaftliche Hilfskraft im Arbeitsbereich Politikwissenschaft und ihre Didaktik.
Stefan Palaver ist Senior Lecturer am Arbeitsbereich Bildungstheorie und Schulforschung an der Universität Graz.
Sophia Schorr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Gender Studies und qualitative Methoden am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Goethe Universität in Frankfurt.
Maida Schuller (sie/ihr) ist Assistentin im Arbeitsbereich Didaktik der Politischen Bildung an der Universität Wien.
Lena Marie Staab vertritt aktuell die Professur für Pädagogik bei Beeinträchtigungen des schulischen Lernens an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg.
Stefan Vater ist Erwachsenenbildner und lehrt im Bereich Gender Studies an der Universität Wien.
Antje Winkler ist Kunstpädagogin und arbeitet seit 2023 an der Universität Potsdam im Bereich Kunst auf Lehramt.
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Studienverlag: Schulheft 194